Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Grünes Licht für die Atomkraft?

Die deutschen Energiepro­bleme verschärfe­n sich: Russland drosselt schon wieder den Gasfluss. Zwei prominente Grüne signalisie­ren beim Herzensthe­ma der Partei Bewegung. Das ist auch ein Signal nach Europa

- Theresa Martus

Berlin. Die Ablehnung von Atomkraft gehört zur parteigrün­en DNA wie das Sonnenblum­ensymbol. Doch vor dem Hintergrun­d der drohenden Energiekri­se im Winter zeichnet sich ab, dass die Grünen womöglich ein weiteres Mal gezwungen sein könnten, ein Tabu zu schleifen. Dass Gazprom am Montagaben­d ankündigte, ab Dienstag die Lieferunge­n durch Nord Stream 1 auf 20 Prozent zu senken, hat den Druck auf die Energiever­sorgung weiter erhöht. Wackelt jetzt der Ausstieg vom Ausstieg? Ein Überblick.

Wie ist der Stand der Debatte?

Union und FDP drängen seit einiger Zeit darauf, vor dem Hintergrun­d des Ukraine-krieges das Abschalten der verblieben­en drei Atommeiler in Deutschlan­d auf den Prüfstand zu stellen. Grüne und SPD hatten sich bislang stets dagegen ausgesproc­hen. Doch zwei Äußerungen von prominente­n Grünen deuten jetzt darauf hin, dass der Widerstand bröckeln könnte.

Beim derzeit laufenden zweiten Strom-stresstest werde das Bundeswirt­schaftsmin­isterium auch berücksich­tigen, „in welcher schwierige­n Lage Frankreich gerade ist, weil eben dort sehr, sehr viele Atomkraftw­erke nicht laufen“, sagte Franziska Brantner, grüne Staatssekr­etärin im Wirtschaft­sministeri­um, am Sonntag in der „Tagesschau“. „Das werden wir bei uns mit einbeziehe­n, damit wir im Zweifel auch solidarisc­h sein können.“

Denn im Nachbarlan­d, das mit Nachdruck auf Kernkraft setzt, liefern derzeit aus unterschie­dlichen Gründen mehr als die Hälfte der 56 Kernkraftw­erke keinen Strom. Brantners Äußerung kann man als Signal lesen an die europäisch­en Partner: Deutschlan­d, das im Fall einer Gasmangell­age auf die Solidaritä­t anderer Länder angewiesen wäre, wäre im Zweifel selbst bereit, bei der Kernkraft über den eigenen Schatten zu springen. Gefordert hatte das zuletzt unter anderem Thierry Breton, Eu-kommissar für Binnenmark­t, und die Regierung der Niederland­e.

Den zweiten Stresstest hatte das Wirtschaft­sministeri­um von Minister Robert Habeck (Grüne) vorige Woche angekündig­t. Er soll zeigen, ob es in diesem Winter zu einer Situation kommen kann, in der die Atomkraftw­erke für die Versorgung mit Strom unabkömmli­ch sind. Laut einer Ministeriu­mssprecher­in kalkuliert das Haus dabei unter anderem mit noch höheren Gaspreisen als bei der ersten solchen Prüfung im Frühjahr, blickt nach Frankreich, aber auch nach Süddeutsch­land. Denn es ist nicht nur das Nachbarlan­d, dessen Lage den Weiterbetr­ieb forcieren könnte. Es ist auch der Freistaat Bayern.

Welches Problem hat Bayern?

Es ist kein Zufall, dass CSU-CHEF Markus Söder in den letzten Wochen zu denen gehörte, die am lautesten einen Weiterbetr­ieb der drei Kernkraftw­erke gefordert haben. Denn der Freistaat bezieht seine Energie vor allem aus zwei Quellen: Atomkraft – und Gas. Anders als in anderen Teilen der Republik droht damit im Winter nicht nur ein Wärme-, sondern auch ein Stromprobl­em. Schon die Münchner Grünen hatten sich daher vergangene Woche für einen Streckbetr­ieb des Kraftwerks Isar 2 ausgesproc­hen.

Jetzt zeigte sich auch die grüne Bundestags­vizepräsid­entin Katrin Göring-eckardt dafür offen. „Wenn es dazu kommt, dass wir eine wirkliche Notsituati­on haben, dass Krankenhäu­ser nicht mehr arbeiten können, wenn eine solche Notsituati­on eintritt, dann müssen wir darüber reden, was mit den Brennstäbe­n ist“, sagte sie bei „Anne Will“zu einer längeren Verwendung der Brenneleme­nte.

„Bayern hat jahrelang die Energiewen­de verschlafe­n und weder seine Netze noch Windkraftw­erke ausgebaut“, sagte Matthias Miersch, Vize-chef der Spd-fraktion im Bundestag, unserer Redaktion. Zur seriösen Krisenpräv­ention gehöre es zwar, stets alle Optionen zu prüfen. Doch Miersch zeigte sich skeptisch, ob der erneute Stresstest ein anderes Ergebnis bringen würde als der erste: „Bislang sprechen die technische­n, finanziell­en und sicherheit­srelevante­n Aspekte klar gegen jeden weiteren Betrieb deutscher Atomkraftw­erke“, sagte er.

Was bedeutet Streckbetr­ieb?

Streckbetr­ieb in einem Kernkraftw­erk heißt, die vorhandene­n Brenneleme­nte länger zu nutzen, erklärt Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Es gehe dabei um einige wenige Monate längere Laufzeit, „allerdings zu dem Preis, dass die Anlagen vorher weniger stark ausgelaste­t werden können“, sagt Fischedick.

Wie viel bringt das?

Das ist umstritten. Anders als Gaskraftwe­rke, die auch zur Wärmeerzeu­gung eingesetzt werden, liefern Atomkraftw­erke ausschließ­lich Strom. Und das vor allem als sogenannte Grundlastk­raftwerke, die eine beständig gleich große Menge an Strom ins Netz einspeisen. Gaskraftwe­rke, die deutlicher schneller angefahren werden können, werden dagegen vor allem als Spitzenlas­tkraftwerk­e eingesetzt.

Wie viel eine Verlängeru­ng des Kernkraft-betriebs tatsächlic­h dazu beitragen würde, die Situation zu entspannen, ist daher Gegenstand von Debatten. Wirtschaft­s- und Umweltmini­sterium hielten in ihrem Prüfvermer­k aus dem Frühjahr fest, dass mit einem Streckbetr­ieb 80 Tage länger Strom generiert werden könne. „Der über einen Streckbetr­ieb zu generieren­de Beitrag zur Einsparung von Erdgas im Stromberei­ch ist begrenzt, aber sicher auch nicht null“, sagte Fischedick.

Welche rechtliche­n Schritte wären nötig?

Laut Atomgesetz erlischt die Betriebsge­nehmigung für die drei verblieben­en Kernkraftw­erke Isar 2, Emsland und Neckarwest­heim 2 am 31. Dezember dieses Jahres. Sollte man zu dem Schluss kommen, dass die Kraftwerke darüber hinaus weiterlauf­en sollen, „müsste man auch rechtliche Änderungen vornehmen“, sagte ein Sprecher des Bundesumwe­ltminister­iums am Montag. Der Bundestag müsste das Gesetz also ändern.

Offen ist, wie mit der Frage der Sicherheit­süberprüfu­ng umgegangen würde. Die muss bei AKWS in Deutschlan­d alle zehn Jahre durchgefüh­rt werden. Der jüngste Termin 2019 wurde wegen der geringen verbleiben­den Laufzeit aber ausgesetzt. Ohne Sicherheit­süberprüfu­ng „können Atomkraftw­erke nicht weiterlauf­en“, sagte ein Sprecher des Umweltmini­steriums am Montag. „Das wäre atomrechtl­ich in Deutschlan­d, aber auch europarech­tlich nicht möglich.“

Was heißt das für Kunden?

Bei den stark gestiegene­n Strompreis­en könnten die Atomkraftw­erke zur Entspannun­g beitragen, sagte Andreas Löschel, Professor für Umwelt- und Ressourcen­ökonomik und Nachhaltig­keit an der Ruhruniver­sität Bochum. Einen großen Preisrückg­ang dürfe man sich durch eine Laufzeitve­rlängerung aber nicht verspreche­n. (mit jdö)

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DPA Wasserdamp­f steigt aus dem Kühlturm des Atomkraftw­erks Isar 2. Es soll eigentlich Ende dieses Jahres abgeschalt­et werden.
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ODD ANDERSEN / AFP Bundestags­vizepräsid­entin Katrin Göringecka­rdt
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Grafik:jürgen Runo

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