Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Die bleierne Zeit

Vincent Maël Cardonas Debütfilm „Die Magnetisch­en“entführt in ein rebellisch junges Frankreich der 1980er-jahre

- Wolfgang Hirsch Ab Donnerstag im Kino am Markt in Jena und im Lichthaus Weimar

Weimar/jena. In den Undergroun­d einer französisc­hen Kleinstadt entführt Vincent Maël Cardonas Filmdebüt. „Die Magnetisch­en“, mit einem César ausgezeich­net, spiegelt das Lebensgefü­hl der frühen 1980er-jahren. Der Takt der Musik gibt den Puls der Zeit vor: Zumindest, wer jung ist, empfindet das so, und die Brüder Jerôme und Philippe, die voller anarchisch­er Lust auf einem Dachboden ihren Piratensen­der betreiben, spielen Iggy Pop, Joy Division, The Undertones und Gang of Four – ab Donnerstag auch in Thüringer Kinos.

Völlig analog und ziemlich bieder ist diese Welt vor 40 Jahren. Soeben wurde François Mitterrand zum Staatspräs­identen gewählt, von ihm erhoffen die Progressiv­en sich einen Aufbruch. Dass der extroverti­erte Jerôme (Joseph Olivennes) und der stille Philippe (Thimotée Robart) im Radio noch Schallplat­ten auflegen und mit Magnetbänd­ern – meist sogar mit der guten alten Musikkasse­tte – hantieren, mindert ihren Drive nicht ein bisschen. Eher steht ihren Entfaltung­sdrang der spießig strenge Vater im Weg – und die Melancholi­e der Provinz.

Die Coming-of-age-geschichte kommt richtig in Fahrt, als die bildhübsch­e Marianne (Marie Colomb), eine alleinerzi­ehende Friseurin, auftaucht und sich beide Brüder in sie verlieben. Die größere Komplikati­on für Philippe besteht jedoch nicht in der ungleichen Konkurrenz zu Jerôme, sondern darin, dass er unvermeidl­ich zum Armeediens­t eingezogen – und in West

Berlin stationier­t – wird. So lässt er sich von Marianne zum Abschied die Haare schneiden: ohne zu wagen, ihr seine Liebe zu gestehen.

Die Regie arbeitet mit einer sehr unkonventi­onellen Ästhetik

Vincent Maël Cardona pflegt eine total unkonventi­onelle Bildsprach­e mit schrägen, oft angeschnit­tenen Einstellun­gen, wackligen Kameraschw­enks, Unschärfen und mitunter diffusem Licht. Und die Story besteht vor allem aus sporadisch­en,

vermeintli­ch zusammenha­nglosen Impression­en. Das ist gerade so, als wolle der Regisseur die Unsicherhe­it der jungen Leute bei ihren Schritten ins Erwachsene­nleben auf die Ästhetik des Films übertragen. Hauptsache, der Schnittrhy­thmus passt zur Musik.

„Du machst das schon“, tröstet Marianne den Wehrpflich­tigen zum Abschied. Und so geschieht es: Per Zufall landet Philippe beim British Forces Broadcasti­ng Service und bringt den Moderator Dany dazu,

seinen akustisch experiment­ierfreudig­en „Punk Spirit“zu preisen. Philippe sampelt Geräusche, legt einen Reggae darüber, montiert verfremdet­e Stimmen und Song-schnipsel: Das Sendestudi­o mutiert zur Radiokunst-produktion­sstätte.

So übersteht der junge Anti-held die Armeezeit im Schatten der Mauer auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges und sehnt sich in die Kleinstadt zurück. Dort hat sich, als er heimkehrt, nichts geändert – nicht die geschmackl­osen Blümchen-tapeten

und schon gar nicht der ziellos rebellisch­e Furor Jerômes. Zwischen äußerstem Überdruss und Übermut ist Leben gefährlich.

„Die Tristesse der 70er ist vorbei, die Utopien sind tot“, verkündet Philippes Berliner Freund. – Vielleicht ist es ein der heutigen Zeit ähnliches Lebensgefü­hl, das diesen hormongesä­ttigten, kompromiss­losen Film sehenswert macht.

 ?? PORT AU PRINCE PICTURES / PORT AU PRINCE PICTURES ?? Philippe (Thimotée Robart) ist an den Turntables im Studio ganz in seinem Element.
PORT AU PRINCE PICTURES / PORT AU PRINCE PICTURES Philippe (Thimotée Robart) ist an den Turntables im Studio ganz in seinem Element.

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