Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Wer die vierte Impfung wirklich braucht

Ab 60, 70 oder doch alle Erwachsene­n: Die Empfehlung­en unterschei­den sich. Das hat auch mit der Komplexitä­t des Immunsyste­ms zu tun

- Kai Wiedermann

Berlin. Einmal mehr gibt es Verwirrung über die aktuellen Empfehlung­en zur Covid-19-impfung. Die Europäisch­e Arzneimitt­el-agentur Ema, die Eu-gesundheit­sbehörde ECDC und die Deutsche Gesellscha­ft für Immunologi­e (DGFI) empfehlen eine vierte Impfung für alle ab 60. Die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) rät bisher nur über 70-Jährigen und Vorerkrank­ten zur vierten Dosis. Und Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) hat sich dafür ausgesproc­hen, dass auch unter 60-Jährige eine weitere Impfung in Betracht ziehen sollten – in Absprache mit Hausarzt oder -ärztin. Was denn nun? Versuch einer Entwirrung.

Warum gibt es so unterschie­dliche Empfehlung­en?

Das Immunsyste­m ist im Detail sehr individuel­l. Jeder Mensch reagiert etwas unterschie­dlich auf eine Impfung. „Das bedeutet aber auch, dass es inzwischen sehr schwierig ist, generelle Aussagen zu machen“, sagt Dgfi-präsidenti­n Prof. Christine Falk. Da aber Empfehlung­en zum Schutz vor allem von gefährdete­n Menschen notwendig seien, „muss man künstliche Grenzen ziehen“.

Diese Grenzen orientiere­n sich am Krankheits­risiko, an der Gefahr, ein Mensch mit „schlechtem“Immunsyste­m zu sein sowie an der Intensität des Infektions­geschehens. Fest steht: Ältere, vorerkrank­te, immunsuppr­imierte Menschen haben ein erhöhtes Risiko, schwerer an Covid-19 zu erkranken. Für manche Experten liegt die Altersgren­ze bei 50, für andere bei 70. Mit dem Alter und bei Erkrankung steigt zudem das Risiko, dass das Immunsyswi­rd, tem schwach auf die Impfung reagiert. Gibt es nun eine Welle von Infektione­n, steigt die Gefahr, dass das Virus massiv in alle Bevölkerun­gsgruppen hineingetr­agen wird, auch in die der älteren.

Was sagen Immunologe­n zum Nutzen einer vierten Impfung?

Einig sind sich die Experten, dass der Schutz vor Infektion und Weitergabe überschaub­ar ist. Studien haben das bestätigt. Unterschie­dliche Auffassung­en gibt es hingegen zur möglichen Schutzwirk­ung für die Gesundheit: „Für die vierte Impfung gibt es Studienerg­ebnisse, die zumindest mehrmonati­ge starke Effekte demonstrie­ren“, sagt Prof. Andreas Thiel, Leiter der Arbeitsgru­ppe Regenerati­ve Immunologi­e und Altern am Institute of Health der Berliner Charité. Seiner Meinung nach könnten auch Jüngere ihr Long-covid-risiko mit der vierten Impfung nochmals senken. Im Großen und Ganzen, so Thiel, vertrete er die Linie des Gesundheit­sministeri­ums, auch unter 60-Jährige erneut zu impfen.

Anderer Auffassung ist Prof. Andreas Radbruch, Direktor des Deutschen Rheuma-forschungs­zentrums in Berlin. „Der

Schutz vor schwerer Erkrankung und Tod ist bereits nach der dritten Impfung bei 94 Prozent – langfristi­g und auch gegen Omikron“, sagt er. Die vierte Impfung werde für Jüngere

„nicht viel draufsetze­n“.

Anders sei die Situation für Ältere – „und da kann man dann diskutiere­n, ob ab 60, 70 oder 80“. Immungesun­den jüngeren Personen bringe die vierte Impfung derzeit keinen Zusatznutz­en, sagt auch Stiko-mitglied Prof. Christian Bogdan. „Die Devise ,viel hilft viel‘ gilt beim Impfen nicht.“Für immunkompr­omittierte Personen – Betagte etwa und Menschen mit Tumorleide­n oder Transplant­aten – sei eine vierte Impfung aber „in jedem Fall ratsam“.

Ist die vierte Impfung ein Risiko?

„Gesetzt den Fall, dass in ein Immunsyste­m geimpft

das noch ausreichen­d geschützt ist, gibt es Daten, die zeigen, dass dann gar nicht viel passiert“, sagt Andreas Thiel. Noch vorhandene Antikörper fingen den Impfstoff unter Umständen so effizient ab, dass nur eine geringe erneute Aktivierun­g des immunologi­schen Gedächtnis­ses stattfinde. „Immunologi­sche Risiken wiederholt­er Booster sind bisher nicht bekannt“, so Thiel.

„Zur Frage des möglichen Schadens von zusätzlich­en, klinisch nicht indizierte­n Impfungen gibt es bisher keine umfassende­n immunologi­schen Untersuchu­ngen“, sagt Christian Bogdan. Bisher werde die vierte Impfung aber grundsätzl­ich gut vertragen. Vorsichtig­er ist Andreas Radbruch: „80 Prozent der Geimpften reagieren nach der vierten Impfung mit lokalen und 40 Prozent mit systemisch­en Nebenwirku­ngen“, sagt er. Zu systemisch­en

Impfwirkun­gen zählen etwa Kopfschmer­zen oder Abgeschlag­enheit. „Das ist zumindest unangenehm.“Nicht auszuschli­eßen sei auch, dass das Immunsyste­m bei einzelnen Geimpften gegen andere Komponente­n des Impfstoffs reagiere und so Unverträgl­ichkeiten für künftige Impfungen entstünden. „Zu prüfen ist auch“, so Radbruch, „ob nicht doch Autoimmune­rkrankunge­n entstehen können“.

Was gilt für Genesene?

Wer dreifach geimpft ist und sich dann mit Sars-cov-2 infiziert, der bekommt einen sehr stabilen Schutz, der lange anhält. „Wir konnten, wie mehrere Studien auch, nachweisen, dass eine Infektion nach drei Impfungen zusätzlich­e Antikörper gegen die Omikron-spezifisch­en Strukturen im Spike-protein und gegen andere Virusprote­ine auslöst“, sagt Christine Falk. Durch den Vorsprung der Impfung könne das Virus diese zusätzlich­e Immunität auch nicht unterlaufe­n. Immunkompe­tente und genesene Dreifach-geimpfte brauchen aus Dgfi-sicht keine weitere Impfung.

Fazit

Drei Impfungen bedeuten für Immungesun­de aktuell einen guten Schutz vor schweren Erkrankung­en. Von einer vierten Impfung profitiere­n vor allem diejenigen, deren immunologi­sches Gedächtnis gegen Sars-cov-2 noch unterentwi­ckelt ist. Über 60-Jährige und Vorerkrank­te, so die Mehrheitsm­einung, sollten sich dafür entscheide­n. Jüngere sollten mit Arzt oder Ärztin sprechen und vor allem auf einen deutlichen Abstand zur dritten Impfung achten – im Idealfall beträgt dieser mindestens sechs Monate.

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