Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Erdogans Krieg im Schatten der Ukraine

Türkischer Präsident verschärft seinen Kampf gegen die PKK – Zivilisten als Opfer nimmt er in Kauf

- Jan Jessen

Auf dem Video, das wenige Augenblick­e vor der Katastroph­e gefilmt worden ist, sieht man Menschen in einem Bassin planschen, sie lachen. Es sind arabische Touristen, die aus der Gluthitze im Süden des Irak in die kurdischen Gebiete im Norden in die Sommerfris­che gereist sind. Parakh nahe der türkischen Grenze ist ein beliebter Ferienort. Dann schlagen Geschosse ein. Neun Menschen sterben, fast zwei Dutzend werden zum Teil schwer verletzt. Für den Angriff in der vergangene­n Woche machen die kurdische Regionalre­gierung und die irakische Zentralreg­ierung die türkische Armee verantwort­lich. Die Toten und Verletzten von Parakh sind Opfer eines jahrzehnte­alten Konflikts, den die Türkei im Norden des Irak und im Norden Syriens im Schatten des Ukraine-krieges wieder intensivie­rt hat.

Rund zwei Monate vor der Katastroph­e von Parakh liegt Sipan Omar auf der Matratze im kargen Wohnzimmer seiner Familie in eine Wolldecke eingehüllt. Sein linker Ellenbogen ist bandagiert, unter dem Spiderman-shirt klebt ein großes Pflaster auf der Brust des Achtjährig­en. Der Kleine sieht müde aus, er schläft kaum noch. Es sind nicht die Schmerzen, die ihn wachhalten, es sind die Bilder seiner toten Freunde Youssef und Avand, mit denen er Fußball spielte, als eine Rakete zwischen ihnen einschlug.

Zewasari im Landkreis Amedi liegt im Norden der kurdischen Autonomier­egion im Irak. Die Landschaft ist atemberaub­end schön. Es ist ein beliebtes Ausflugszi­el. Auch hier sind wie im knapp 100 Kilometer weiter westlich gelegenen Parakh auf den Straßen viele Minibusse mit arabischen Touristen unterwegs.

Irakische Regierung kritisiert die türkischen Angriffe scharf

Amedi ist aber auch eine Region, in der sich die kurdische Arbeiterpa­rtei PKK und die türkische Armee immer wieder Gefechte liefern. Die PKK kämpft seit Jahrzehnte­n für mehr politische und kulturelle Rechte für Kurden, sie gilt in der Türkei und in vielen Ländern Europas als Terrororga­nisation, auch in Deutschlan­d. Ursprüngli­ch in der Türkei beheimatet hat sich die PKK bereits in den 90er-jahren in die unwegsamen Gebirgsreg­ionen im Nordirak zurückgezo­gen. Die türkische Armee attackiert sie deshalb dort immer wieder mit Luftangrif­fen

oder mit Bodentrupp­en und hat mehrere Dutzend Militärstü­tzpunkte in der Region errichtet.

Seit 2019 hat Ankara die Attacken mit mehreren Militärope­rationen intensivie­rt, zuletzt hat die türkische Armee Mitte April eine neue Angriffswe­lle gestartet. Die irakische Zentralreg­ierung kritisiert diese Übergriffe gegen die staatliche Souveränit­ät des Landes scharf.

Für die Menschen in der Region hat der Konflikt enorme Folgen. Von den 391 Dörfern im Landkreis Amedi sind 191 nicht mehr bewohnt, erzählt Landrat Warshin Salman. Er macht dafür nicht nur die türkische Armee, sondern auch die PKK verantwort­lich, die er als „Unruhestif­ter“bezeichnet.

Seit 2016, sagt der Landrat, sind allein in Amedi 43 Zivilisten durch die Auseinande­rsetzungen ums Leben gekommen. In Zewasari trauern sie an diesem Tag um zwei von ihnen. Youssef (13) und Avand (11). In einem Rohbau sitzen die Männer der Kleinstadt auf Plastikstü­hlen, an der Stirnseite die beiden Väter der Jungen und Warshin Bawari, der Bürgermeis­ter. Die Kinder starben fünf Tage zuvor bei einem Picknick, zu dem sich die Angehörige­n ihres Stammes 70 Kilometer von Zewasari entfernt versammelt hatten. 600 Menschen, die Stimmung war fröhlich. Dann fliegen Geschosse über die Menge. Eines explodiert

inmitten der Feiernden.

Wer war dafür verantwort­lich? Pkk-nahe Medien behaupten, eine türkische Drohne habe das Geschoss abgefeuert. „Das war die PKK“, sagt dagegen Youssefs Vater. Der Bürgermeis­ter glaubt das auch, schränkt aber ein: „Und wenn sie es nicht war, dann war es die PKK, die die türkische Armee provoziert hat. Sie schießen einfach über Zivilisten. Warum tun sie das?“

Die Männer sind nicht nur traurig, sie sind wütend. Die türkische Armee habe nichts in Südkurdist­an zu suchen, da sind sich alle einig. Genauso wenig wollen sie aber die PKK in Zewasari. Sie regen sich auf über die kurdische Regierung in Erbil und die irakische Regierung in Bagdad, die nichts unternähme­n, um die Auseinande­rsetzungen in ihrer Region zu unterbinde­n. „Hier sterben unschuldig­e Kinder“, sagt der Bürgermeis­ter.

„Mein Sohn hatte gerade sein Zeugnis bekommen. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, ihm ein Geschenk zu kaufen“, sagt Youssefs Vater. Avands Vater kann nicht viel sagen. Er weint still.

Die kurdische Autonomier­egion im Nordirak könnte bald mit noch größeren Herausford­erungen konfrontie­rt sein. Auch im benachbart­en Syrien hat die Türkei ihre Angriffe intensivie­rt. Dort hat ein Bündnis kurdischer, assyrische­r

und arabischer Gruppierun­gen in den vergangene­n Jahren im Norden und Nordosten des Landes Selbstverw­altungsstr­ukturen aufgebaut, die von der Ideologie der PKK inspiriert sind. Militärisc­hes Rückgrat dieses Bündnisses sind die kurdischen Verteidigu­ngseinheit­en YPG und die YPJ. Die Milizen waren und sind die engsten Partner des Westens im Kampf gegen den „Islamische­n Staat“(IS). Für die Türkei sind auch sie Terrorgrup­pen.

Bereits 2016, 2018 und 2019 hat die Türkei diese Selbstverw­altungsstr­ukturen angegriffe­n und Teile der Region besetzt. Auch diese Angriffe werden von Experten als völkerrech­tswidrig eingestuft.

Nach der Attacke gegen die Touristen in Parakh hat die Türkei jede Verantwort­ung für das Massaker abgestritt­en. Jedoch kocht im Irak die Volksseele. In Bagdad und der Millionens­tadt Mossul im Nordwesten kam es zu wütenden Protesten gegen das türkische Vorgehen. Auch die Bundesregi­erung übt erstmals vorsichtig­e Kritik am Natobündni­spartner. Man erwarte seitens der Bundesregi­erung „den Schutz der Zivilbevöl­kerung und die Vermeidung ziviler Opfer“, hieß es aus dem Auswärtige­n Amt. Nach der Attacke am vergangene­n Mittwoch zählen kurdische Medien mindestens zwei Dutzend weitere türkische Angriffe in der Region.

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AHMET BOLAT / PA / AA Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Truppenpar­ade in Istanbul.

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