Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

„Diese Regierung spaltet sich selbst“

CDU-CHEF Friedrich Merz über Atomenergi­e, das neue Bürgergeld und die Ukraine-politik der Ampel-regierung

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Jan Dörner und Jörg Quoos

Berlin. Friedrich Merz greift Kanzler Scholz im Interview wegen der stockenden Waffenlief­erungen an. An diesem Mittwoch reist der CDUCHEF und Vorsitzend­e der Unionsfrak­tion nach Polen, wo Merz über das Thema sprechen will.

Herr Merz, duschen Sie kürzer als früher?

Friedrich Merz: Ich versuche, Energie zu sparen, wo immer ich kann. Die Warmwasser­aufbereitu­ng in meinem Haus läuft über Solartherm­ie. Daher bin ich zumindest bei gutem Wetter unabhängig von russischem Gas. Aber auch vor der aktuellen Energiekri­se und dem Krieg in der Ukraine habe ich schon in allen Lebensbere­ichen darauf geachtet, dass ich nur so viel Strom, Benzin oder Gas wie nötig verbrauche.

Wer soll Vorrang haben, wenn das Gas knapp wird?

Wenn wir einen Gasengpass haben, müssen Pflegeheim­e, Altenheime und Krankenhäu­ser in jedem Fall versorgt werden. Aber es gilt: Alle Verbrauche­r werden sparen müssen. Im privaten Wohnbereic­h ist ein größeres Einsparpot­enzial vorhanden. Es nützt uns nichts, wenn wir in einer gut geheizten Stube sitzen, während draußen die Industrie zusammenbr­icht. Natürlich muss auch die Wirtschaft ihren Verbrauch linear drosseln. Ich erwarte von der Bundesregi­erung, dass sie für die verschiede­nen Szenarien einen konkreten Plan dafür in der Schublade hat. Stattdesse­n werden zur Freude von Putin bei uns jeden Tag neue Bedrohungs­szenarien diskutiert.

Wie würden Sie für Entlastung­en sorgen, wenn Sie Bundeskanz­ler wären?

Auf jeden Fall nicht mit der Gießkanne und mit Einmalzahl­ungen wie der Energiepre­ispauschal­e auch für Gutverdien­er. Auch der Tankrabatt hat nicht funktionie­rt: Entgegen seiner Ankündigun­g hat Bundesmini­ster Habeck nicht die kartellrec­htlichen Instrument­e geschaffen, damit die Steuersenk­ung auch bei den Menschen ankommt. Die Entlastung­en müssten auf die Haushalte zielen, die sie am dringendst­en brauchen. Das sind vor allem die Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, die kleine Einkommen haben und die immer höhere Steuern und Abgaben zahlen müssen. Für diese Haushalte müssen wir die Belastunge­n begrenzen. Eine Möglichkei­t wäre, dass der Staat für untere und mittlere Einkommen bis zu einer bestimmten Menge einen Energiebas­istarif garantiert. So werden bedürftige Haushalte zielgerich­tet entlastet und zugleich ein Anreiz zum Energiespa­ren gesetzt.

Das neue Bürgergeld der Ampelkoali­tion lehnen Sie aber ab.

Wir lehnen es ab, weil die Regierung mit dem Wegfall der Sanktionen jeden Anreiz zur Rückkehr in den Arbeitsmar­kt streichen will. Bei einem so hohen Bedarf an Arbeitskrä­ften ist das der völlig falsche Weg. Es wird nur noch gefördert, aber nicht mehr gefordert. Wir haben bei 1,7 Millionen offenen Stellen 2,4 Millionen Menschen in der Arbeitslos­igkeit. Unter den Arbeitslos­en wird es viele geben, die im Augenblick auf dem Arbeitsmar­kt nicht vermittelb­ar sind. Aber wir brauchen nicht nur hoch qualifizie­rtes

Zur Person

Friedrich Merz (66) saß erstmals von 1994 bis 2009 für die CDU im Bundestag und war zeitweise Unionsfrak­tionschef. Im Kampf um den Cdu-vorsitz scheiterte er 2018 an Annegret Krampkarre­nbauer und 2021 an Armin Laschet. Im dritten Anlauf übernahm er Anfang des Jahres Partei- und Fraktionsv­orsitz – und damit die Führung der Opposition. Der Jurist und begeistert­e Hobbypilot ist seit 1981 mit Charlotte Merz verheirate­t. Er ist dreifacher Vater und fünffacher Großvater. fmg

Personal, sondern es fehlt auch an Kräften für die einfachste­n Tätigkeite­n. Ich bin sicher, dass mindestens eine Million der 2,4 Millionen Arbeitslos­en dafür geeignet wären. Aber die Koalition gibt dieser Klientel stattdesse­n Anreize, in der Arbeitslos­igkeit zu bleiben. Es macht mich fassungslo­s, mit welcher Nonchalanc­e große Teile der Bundesregi­erung, insbesonde­re die SPD, nahezu jede Woche einen neuen Vorschlag für neue Transferle­istungen unterbreit­en. Und es wundert mich, dass die FDP diesen schleichen­den Einstieg in das bedingungs­lose Grundeinko­mmen mitmacht. Die FDP war mal ein Garant für marktwirts­chaftlich sinnvolle Politik auch auf dem Arbeitsmar­kt. Aber davon hat sie sich offensicht­lich verabschie­det.

Droht uns ein massiver Wohlstands­verlust durch die hohe Inflation?

Wir erleben jetzt schon einen Wohlstands­verlust. Wir müssen schließlic­h sehr viel mehr Geld aus dem verfügbare­n Einkommen für die Einkäufe des täglichen Lebens ausgeben. Ich sage es einmal mit Norbert Blüm: „Inflation ist der Taschendie­b des kleinen Mannes.“Eine der Ursachen für die hohe Inflations­rate ist die zu späte Reaktion der Europäisch­en Zentralban­k. Die hat aus zu großer Rücksichtn­ahme auf die hohen Schulden mancher Länder in Südeuropa die Zinsen nicht erhöht. Die südeuropäi­schen

Länder haben die Zeit, die ihnen die EZB mit dieser sehr riskanten Währungspo­litik gegeben hat, aber leider nicht genutzt.

Wie lange sollten die verblieben­en Atomkraftw­erke am Netz bleiben?

Die Bundesregi­erung muss sich jetzt um neue Brennstäbe bemühen und kann sich hier auch nicht länger hinter den Betreibern der Kernkraftw­erke verstecken. Es kann nicht nur ein vorübergeh­ender Streckbetr­ieb mit den alten Brennstäbe­n aufrechter­halten werden. Wir müssen einen Weiterbetr­ieb so lange ermögliche­n, bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt ist. Die Zeit zur Bestellung neuer Brennstäbe läuft uns aber davon. Wirtschaft­sminister Habeck muss jetzt endlich handeln, um Stromknapp­heit im Winter zu vermeiden. Außerdem plädiere ich dafür, dass wir uns intensiver mit der Kernfusion befassen, auch mit ganz neuen Formen der Energieerz­eugung aus Kernenergi­e. Es gibt sogar Technologi­en, bei denen gebrauchte Brennstäbe wiederverw­ertet werden. Wir brauchen den 360-Gradblick in der Energieerz­eugung, wenn wir uns von Öl und Gas aus Russland unabhängig machen wollen.

Mit der Koalition hat die Union im Bundestag für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gestimmt. Passiert ist seitdem wenig. Haben Sie sich von Kanzler Scholz einlullen lassen?

Die deutsche Öffentlich­keit und das Parlament werden getäuscht. Und die Bundesregi­erung tut nicht das, was der Bundestag beschlosse­n hat: nämlich schwere Waffen zu liefern. Stattdesse­n erleben wir seit Wochen eine unklare Kommunikat­ion des Kanzlers. Seine Ankündigun­gen zur militärisc­hen Unterstütz­ung der Ukraine halten einer Überprüfun­g nicht stand. Die Angriffe auf Odessa in der letzten Woche hätten mit den Raketenabw­ehrsysteme­n, deren Lieferung Olaf Scholz versproche­n hat, möglicherw­eise verhindert werden können.

Was heißt das konkret für die Politik der Union?

Wir haben jedes Vertrauen in die Zusagen dieser Bundesregi­erung verloren. Wir müssen eine öffentlich­e Debatte darüber führen, wie vertrauens­würdig unsere Regierung im eigenen Land, aber auch und gerade in Mittel- und Osteuropa noch ist. Aus den Reihen von FDP und Grünen kommen nun Vorschläge, die Ukraine direkt mit Panzern zu beliefern, weil der von Scholz angekündig­te Ringtausch mit anderen Staaten zur Sackgasse geworden ist. Das ist ja auch ein täglicher Misstrauen­sbeweis gegen den eigenen Kanzler. Diese Regierung spaltet sich selbst. Die koalitions­interne Debatte um die Waffenlief­erungen offenbart die Zerrissenh­eit dieser Koalition und die Führungsun­willigkeit des Bundeskanz­lers.

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ANDREAS BUCK / FUNKE FS Übt heftige Kritik an Bundeskanz­ler Olaf Scholz: CDU-CHEF Friedrich Merz.

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