Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
„Die Sorge der Menschen ist riesig“
In der Gaskrise fordert Ramona Pop, oberste Verbraucherschützerin, neue Hilfspakete
Berlin. Wie teuer wird das Heizen im Winter? Diese Frage treibt immer mehr Menschen um, und Deutschlands oberste Verbraucherschützerin Ramona Pop verlangt von der Bundesregierung Antworten auf diese Frage. Seit Anfang Juli leitet die frühere Grünen-politikerin den Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv). In ihrem ersten Interview spricht sie über den drohenden Gasmangel und Maßnahmen gegen steigende Lebensmittelpreise.
Gas ist ein knappes Gut. Sitzen Verbraucher im Winter im Kalten?
Ramona Pop: Die Sorge der Menschen ist riesig, die Ängste und Verzweiflung steigen. Unsere Verbraucherzentralen leisten in ihren Beratungen längst nicht mehr nur Energieberatung, sondern Sozialarbeit. Die Verbraucherinnen und Verbraucher wissen nicht, worauf sie sich einstellen müssen. Viele fragen sich, ob sie es sich überhaupt leisten können, im Winter zu heizen. Die Bundesregierung muss endlich klar kommunizieren, was auf die Verbraucher und Verbraucherinnen zukommt.
Was fordern Sie von der Bundesregierung?
Die Bundesregierung soll aufhören zu streiten und stattdessen neue Hilfspakete schnüren. Die jetzigen Hilfen wie das 9-Euro-ticket laufen Ende August aus. Der Bundeskanzler hat angekündigt, dass ab September oder Oktober die höheren Gaspreise an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden, mögliche Hilfen dafür hat er aber erst fürs nächste Jahr in Aussicht gestellt. Da klafft eine große Gerechtigkeitslücke, so geht das nicht.
Welche Kosten kommen aus ihrer Sicht auf die Verbraucher zu?
Die Bundesnetzagentur schätzt, dass sich die Gaspreise in diesem Jahr verdreifachen könnten im Vergleich zum Sommer 2021. Was das hieße, kann jeder selbst ausrechnen. Wie sich die Preise darüber hinaus entwickeln, kann niemand seriös vorhersagen. Die Energiepreise werden viele Menschen hart treffen. Weitere Preissteigerungen ab Herbst sind durch den Bundeskanzler angekündigt worden. Es braucht schnellstmöglich Klarheit und natürlich ein Maßnahmenpaket, um diese Belastung sozial abzufedern.
Ramona Pop (44) zog als Spätaussiedlerin 1988 von Rumänien nach Deutschland. Nach dem Abitur in Münster studierte sie Politikwissenschaft und engagierte sich politisch bei den Grünen. Über 20 Jahre war Pop Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, unter anderem als Fraktionsvorsitzende. Von 2016 bis 2021 war sie Bürgermeisterin von Berlin und Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe. Seit diesem Juli leitet sie den Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). aky
Welche Hilfen wären angemessen? Wir sehen, dass Rettungsschirme für Unternehmen aufgespannt werden und energieintensive Branchen mit einem Milliardenpaket unterstützt werden. Wann kommt endlich die Unterstützung für die Verbraucherinnen und Verbraucher? Es braucht Heizkostenpauschalen und Zuschüsse vor allem für einkommensschwache Menschen wie Rentner, Studierende und Wohngeldempfangende. Zudem muss es ein Moratorium geben, dass niemandem der Strom oder das Gas abgestellt oder die Wohnung gekündigt wird, weil die erhöhten Abschläge beziehungsweise Mieten nicht bezahlt werden kann. Die geplante Umlage der Gaspreise muss transparent sein. Die Verbraucher müssen wissen, was auf ihre Rechnung aufgeschlagen wird. Es darf nicht sein, dass auch Boni, Dividenden oder Gewinne der Unternehmen davon mitbezahlt werden.
Noch sollen Bürger in einer Notlage bis zuletzt mit Gas versorgt werden. Sollte diese Reihenfolge zum Schutz der Industrie und der Arbeitsplätze geändert werden?
Ich rate von solchen Scheindiskussionen ab, weil diese nur zu großer Verunsicherung führen. Wir sprechen hier von europäischem Recht, das geschützte Bereiche definiert – und dazu gehören Krankenhäuser, die soziale Infrastruktur und private Haushalte. Diskussionen, in denen Arbeitsplätze gegen kalte Wohnungen ausgespielt werden, sind brandgefährlich und das falsche Signal. Wir brauchen Solidarität, auch beim Energiesparen.
Welche Zugeständnisse wären zumutbar? Warmwasserabstellen in der Nacht, Wolldecken und Pullis gegen die Kälte?
Es gibt ja einen regelrechten Überbietungswettbewerb, der nicht hilfreich ist. Im Kern geht es ja darum, dass es einen Komfortverlust geben wird. Die Temperatur um ein, zwei Grad in der eigenen Wohnung herunterzuregeln, ist nicht schön, aber es spart gewaltig. Fenster und Türen abzudichten oder auch die Heizung zu entlüften – auch das hilft, Energie zu sparen.
Verbraucher leiden überall unter steigenden Preisen. Sollte die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel gesenkt werden?
Für gesunde Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte sollte die Mehrwertsteuer abgeschafft werden, damit es für alle Verbraucherinnen und Verbraucher leichter ist, sich gesund zu ernähren. Die Sozialverbände haben zudem recht mit ihrer Forderung, Transferleistungen zu erhöhen, um die Preissteigerungen auch bei Lebensmitteln aufzufangen.
Der neue Agrarminister plant ein staatliches Tierhaltungskennzeichen. Ist es zumutbar, dass Fleisch deshalb teurer wird?
Die Mehrheit der Verbraucher ist bereit, für mehr Tierwohl auch mehr Geld auszugeben. Es ist gut, dass Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir jetzt eine verbindliche Kennzeichnung auf den Weg bringt. Allerdings müssten die Kriterien noch nachgeschärft werden.