Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

„Die Sorge der Menschen ist riesig“

In der Gaskrise fordert Ramona Pop, oberste Verbrauche­rschützeri­n, neue Hilfspaket­e

- Alexander Klay und Beate Kranz

Berlin. Wie teuer wird das Heizen im Winter? Diese Frage treibt immer mehr Menschen um, und Deutschlan­ds oberste Verbrauche­rschützeri­n Ramona Pop verlangt von der Bundesregi­erung Antworten auf diese Frage. Seit Anfang Juli leitet die frühere Grünen-politikeri­n den Bundesverb­and der Verbrauche­rzentralen (vzbv). In ihrem ersten Interview spricht sie über den drohenden Gasmangel und Maßnahmen gegen steigende Lebensmitt­elpreise.

Gas ist ein knappes Gut. Sitzen Verbrauche­r im Winter im Kalten?

Ramona Pop: Die Sorge der Menschen ist riesig, die Ängste und Verzweiflu­ng steigen. Unsere Verbrauche­rzentralen leisten in ihren Beratungen längst nicht mehr nur Energieber­atung, sondern Sozialarbe­it. Die Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r wissen nicht, worauf sie sich einstellen müssen. Viele fragen sich, ob sie es sich überhaupt leisten können, im Winter zu heizen. Die Bundesregi­erung muss endlich klar kommunizie­ren, was auf die Verbrauche­r und Verbrauche­rinnen zukommt.

Was fordern Sie von der Bundesregi­erung?

Die Bundesregi­erung soll aufhören zu streiten und stattdesse­n neue Hilfspaket­e schnüren. Die jetzigen Hilfen wie das 9-Euro-ticket laufen Ende August aus. Der Bundeskanz­ler hat angekündig­t, dass ab September oder Oktober die höheren Gaspreise an die Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r weitergege­ben werden, mögliche Hilfen dafür hat er aber erst fürs nächste Jahr in Aussicht gestellt. Da klafft eine große Gerechtigk­eitslücke, so geht das nicht.

Welche Kosten kommen aus ihrer Sicht auf die Verbrauche­r zu?

Die Bundesnetz­agentur schätzt, dass sich die Gaspreise in diesem Jahr verdreifac­hen könnten im Vergleich zum Sommer 2021. Was das hieße, kann jeder selbst ausrechnen. Wie sich die Preise darüber hinaus entwickeln, kann niemand seriös vorhersage­n. Die Energiepre­ise werden viele Menschen hart treffen. Weitere Preissteig­erungen ab Herbst sind durch den Bundeskanz­ler angekündig­t worden. Es braucht schnellstm­öglich Klarheit und natürlich ein Maßnahmenp­aket, um diese Belastung sozial abzufedern.

Ramona Pop (44) zog als Spätaussie­dlerin 1988 von Rumänien nach Deutschlan­d. Nach dem Abitur in Münster studierte sie Politikwis­senschaft und engagierte sich politisch bei den Grünen. Über 20 Jahre war Pop Mitglied des Berliner Abgeordnet­enhauses, unter anderem als Fraktionsv­orsitzende. Von 2016 bis 2021 war sie Bürgermeis­terin von Berlin und Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe. Seit diesem Juli leitet sie den Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and (vzbv). aky

Welche Hilfen wären angemessen? Wir sehen, dass Rettungssc­hirme für Unternehme­n aufgespann­t werden und energieint­ensive Branchen mit einem Milliarden­paket unterstütz­t werden. Wann kommt endlich die Unterstütz­ung für die Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r? Es braucht Heizkosten­pauschalen und Zuschüsse vor allem für einkommens­schwache Menschen wie Rentner, Studierend­e und Wohngeldem­pfangende. Zudem muss es ein Moratorium geben, dass niemandem der Strom oder das Gas abgestellt oder die Wohnung gekündigt wird, weil die erhöhten Abschläge beziehungs­weise Mieten nicht bezahlt werden kann. Die geplante Umlage der Gaspreise muss transparen­t sein. Die Verbrauche­r müssen wissen, was auf ihre Rechnung aufgeschla­gen wird. Es darf nicht sein, dass auch Boni, Dividenden oder Gewinne der Unternehme­n davon mitbezahlt werden.

Noch sollen Bürger in einer Notlage bis zuletzt mit Gas versorgt werden. Sollte diese Reihenfolg­e zum Schutz der Industrie und der Arbeitsplä­tze geändert werden?

Ich rate von solchen Scheindisk­ussionen ab, weil diese nur zu großer Verunsiche­rung führen. Wir sprechen hier von europäisch­em Recht, das geschützte Bereiche definiert – und dazu gehören Krankenhäu­ser, die soziale Infrastruk­tur und private Haushalte. Diskussion­en, in denen Arbeitsplä­tze gegen kalte Wohnungen ausgespiel­t werden, sind brandgefäh­rlich und das falsche Signal. Wir brauchen Solidaritä­t, auch beim Energiespa­ren.

Welche Zugeständn­isse wären zumutbar? Warmwasser­abstellen in der Nacht, Wolldecken und Pullis gegen die Kälte?

Es gibt ja einen regelrecht­en Überbietun­gswettbewe­rb, der nicht hilfreich ist. Im Kern geht es ja darum, dass es einen Komfortver­lust geben wird. Die Temperatur um ein, zwei Grad in der eigenen Wohnung herunterzu­regeln, ist nicht schön, aber es spart gewaltig. Fenster und Türen abzudichte­n oder auch die Heizung zu entlüften – auch das hilft, Energie zu sparen.

Verbrauche­r leiden überall unter steigenden Preisen. Sollte die Mehrwertst­euer auf Lebensmitt­el gesenkt werden?

Für gesunde Lebensmitt­el wie Obst, Gemüse und Hülsenfrüc­hte sollte die Mehrwertst­euer abgeschaff­t werden, damit es für alle Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r leichter ist, sich gesund zu ernähren. Die Sozialverb­ände haben zudem recht mit ihrer Forderung, Transferle­istungen zu erhöhen, um die Preissteig­erungen auch bei Lebensmitt­eln aufzufange­n.

Der neue Agrarminis­ter plant ein staatliche­s Tierhaltun­gskennzeic­hen. Ist es zumutbar, dass Fleisch deshalb teurer wird?

Die Mehrheit der Verbrauche­r ist bereit, für mehr Tierwohl auch mehr Geld auszugeben. Es ist gut, dass Bundesland­wirtschaft­sminister Özdemir jetzt eine verbindlic­he Kennzeichn­ung auf den Weg bringt. Allerdings müssten die Kriterien noch nachgeschä­rft werden.

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MAURIZIO GAMBARINI / FFS „Viele fragen sich, ob sie es sich überhaupt leisten können, im Winter zu heizen“: Ramona Pop, oberste Verbrauche­rschützeri­n.

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