Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Die kämpferisc­he First Lady

Olena Selenska schrieb früher Witze für ihren Mann. Heute muss sie den vielen Hinterblie­benen Trost spenden

- Stefan Scholl

Moskau. 1001 Kinder seien inzwischen verletzt oder getötet worden, erklärte sie kürzlich auf ihrem Telegram-kanal. Aber tatsächlic­h habe jedes ukrainisch­e Kind gelitten. „Sie mussten fliehen, wurden von ihren Eltern getrennt, zitterten in Luftschutz­kellern vor Angst.“Olena Selenska hat keine Gute-nachtgesch­ichten zu erzählen. Vor allem das Leid der Kinder in der Ukraine will die First Lady öffentlich machen. Dazu nutzt sie ihre Rolle – und ihre Popularitä­t.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, ist zum Weltstar geworden. Seine Ehefrau Olena Selenska auch. Sind bilden das erste mediale Traumpaar des Landes, auch wenn der Alltag sie meistens trennt.

Die Präsidente­ngattin ist in diesen Tagen in der Regel ohne ihren Mann in westlichen Medien zu sehen. Aber für die jüngste Ausgabe der „Vogue“setzt sie sich zu ihm an den Schreibtis­ch in seinem Büro in Kiew. Auf einem Foto hält Selenskyj sie im Arm, auf einem anderen hat er ihre Hand genommen. Sie blicken ernst in die Kamera von Annie Leibovitz.

Us-starfotogr­afin Leibovitz setzte das Paar in Szene

Die amerikanis­che Starfotogr­afin hat auch das Titelbild für die einflussre­ichste Modezeitsc­hrift gemacht: Darauf sitzt sie auf Mamorstufe­n vor Säulen, die mit Sandsäcken gesichert sind. Sie ist sehr dezent geschminkt, wirkt traurig und verwundbar. Sie trägt flache schwarze Schuhe, eine schwarze Hose, eine cremefarbe­ne Bluse, deren Ärmel sie nach oben geschoben hat. Schmuck hat sie nicht, dafür die langen blonden Haare offen.

Meistens ist das anders. Ihre Scheitel sind oft so streng wie ihre Anzüge, sie lächelt wenig. Olena Selenska, die einst Witzdialog­e für ihren Mann schrieb, muss jetzt über leidende oder tote Kinder reden. Dabei birgt die Berichters­tattung über die 44-Jährige auch viel Klatsch.

Die europäisch­en Frauenzeit­schriften und Beilagen-magazine feiern sie als starke Persönlich­keit, die „Bild“-zeitung präsentier­t sie als Opferheldi­n: „Putin jagt Sie. Ihre Kinder müssen angezogen schlafen gehen. Sie fliehen von Bunker zu Bunker.“

Der Familie Selenskyj drohte in den ersten Kriegstage­n Gefangensc­haft. Während Millionen Ukrainerin­nen

mit ihren Kindern ins Ausland geflohen sind, können Olena Selenska, ihre Tochter Oleksandra, 18, und ihr Sohn Kyrylo, 9, den Ehemann und Vater inzwischen wieder regelmäßig sehen.

Es war ein wuchtiges Ausrufezei­chen, als außer dem Präsidente­n auch seine Familie nach den ersten russischen Raketenein­schlägen im Land blieb. Olena Selenska wurde zur weiblichen Symbolfigu­r für den Mut ihres Volkes.

Was sie sagt, klingt echt und ehrlich. Sie muss sich nicht verbiegen: „Ich verstehe die Frauen und Männer, die jetzt getrennt sind.“Tochter bräuchte ihren Vater, um mit ihm zu reden, der Sohn, um sich auf seine Knie zu setzen. Solche Klagen hört man von Millionen ukrainisch­en Frauen.

In der „Vogue“verbreitet Selenska Zuversicht: „Wir haben keinen Zweifel, dass wir siegen werden. Und das ist es, was uns antreibt“. Die Zeit seit dem 24. Februar seien „die schrecklic­hsten Monate meines Lebens und des Lebens aller Ukrainer“gewesen.

Die Frauen, sagte Selenska der Wochenzeit­ung „Die Zeit“, kämpften an vorderster Front als Freiwillig­e, versorgten Verwundete und organisier­ten humanitäre Konvois. „Wir ukrainisch­en Frauen wollen ja gar keine Flüchtling­e sein; wir wollen nicht abhängig sein. Wir sind Eigenständ­igkeit und Eigeniniti­ative gewohnt.“

Olena Selenska ist als Gattin und Mutter ein Marmorfels, Wolodymyr der Mann ihres Lebens. Sie gingen im ostukraini­schen Krywyj Rih gemeinsam

zur Schule. Aber jahrelang traute er sich nicht an die schöne Musterschü­lerin aus der Parallelkl­asse heran. Erst als Student begann Selenskyj ihr den Hof zu machen – erfolgreic­h.

Er schloss sein Jura-, sie mit Auszeichnu­ng ihr Architektu­rstudium ab, danach wurden beide Berufskomö­dianten, heirateten erst nach acht Jahren Beziehung. Er war der Witzereiße­r auf der Bühne, sie gehörte zu den Drehbuchau­toren seiner Sketche und Filme. Angeblich erfuhr sie von seinem Entschluss, als Präsident zu kandidiere­n, erst nach dem Start seines Wahlkampfe­s. Eine Ehe für einen Hollywoodf­ilm.

Aber wenn ukrainisch­e Frauen über die Entscheidu­ngen ihrer Männer reden, sind sie nicht immer ehrlich. Insgeheim herrscht hier eher Matriarcha­t“, erklärt der Politologe Ihor Rejtorowit­sch. „Die Frauen werden ,Hüterinnen der Familie‘ genannt. Auch wenn der Mann die Karriere macht, entscheide­t oft seine Frau, in welche Richtung

es dabei geht.“Wolodymyr Selenskyj sagt, in den wichtigste­n Fragen berate er sich mit seiner Frau.

Olena Selenska versichert, sie bleibe lieber im Hintergrun­d, Publikumsa­uftritte bedeuteten für sie Stress. Doch das geht nicht mehr. Vor wenigen Tagen sprach sie vor dem Us-kongress und bat um weitere Waffenlief­erungen für ihr Land. Zuvor hatte sie sich mit der amerikanis­chen First Lady Jill Biden im Weißen Haus getroffen.

Sie hat ihre Rolle gefunden und rackert täglich für den Sieg ihres Landes gegen Russland – in den Medien, auf Videokonfe­renzen. Vor wenigen Tagen veranstalt­ete sie schon das zweite Gipfeltref­fen der First Ladys und First Gentlemen, es fand als Videoschal­te statt, Elke Büdenbende­r, die Ehefrau von Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier, war auch dabei. Es ging auch um die Perspektiv­en der Ukraine und der Welt für den Tag, an dem die Waffen endlich wieder schweigen. Olena Selenska ahnt, dass dieser Tag in weiter Ferne liegt.

 ?? ANNIE LEIBOVITZ/VOGUE ?? Olena Selenska mit ukrainisch­en Soldaten am Flugplatz in Hostomel bei Kiew, an dem heftige Kämpfe tobten. Das Foto entstand für die „Vogue“.
ANNIE LEIBOVITZ/VOGUE Olena Selenska mit ukrainisch­en Soldaten am Flugplatz in Hostomel bei Kiew, an dem heftige Kämpfe tobten. Das Foto entstand für die „Vogue“.
 ?? ANNIE LEIBOVITZ/VOGUE ?? Mit ihrem Mann Wolodymyr Selenskyj in dessen Büro in Kiew. Alle Aufnahmen stammen von Starfotogr­afin Annie Leibovitz.
ANNIE LEIBOVITZ/VOGUE Mit ihrem Mann Wolodymyr Selenskyj in dessen Büro in Kiew. Alle Aufnahmen stammen von Starfotogr­afin Annie Leibovitz.
 ?? LEIBOVITZ/VOGUE ?? Die Präsidente­ngattin auf der Titelseite der „Vogue“.
LEIBOVITZ/VOGUE Die Präsidente­ngattin auf der Titelseite der „Vogue“.

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