Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Menschings­che Unschärfer­elation

Der Schriftste­ller und Rudolstädt­er Intendant veröffentl­icht den Roman „Hausers Ausflug“

- Michael Helbing thueringer-allgemeine.de/gewinnspie­l

Rudolstadt. Steffen Menschings neuer Roman beginnt so: „Hauser hatte seine Lage im Augenblick des Erwachens durchschau­t. Er steckte in einer Box.“Doch dieser Anfang ist bereits ein Ende: das aller Klarheit und Sicherheit. Fortan regiert, über 250 Seiten, die Ungewisshe­it.

Gewiss scheint nur so viel zu sein: Jemand musste David Hauser verraten und verkauft haben. Mit dieser Anspielung auf Josef K. hätte der Roman ebenso beginnen können, zumal ihm ein Kafka-aphorismus vorangeht: „Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“Nicht nur, aber auch in diesem Sinn trägt „Hausers Ausflug“deutlich kafkaeske Züge. „Schließlic­h“, heißt es darin, „gab es in dieser Geschichte grundsätzl­ich keinen Sinn.“Später hofft Hauser noch, „dass, entgegen seiner Empfindung, im Hintergrun­d der ganzen Geschichte doch so etwas wie Rationalit­ät oder Kalkül wirkte.“

Nun, letztlich ist wohl beides richtig. Mensching setzt David Hauser aus Berlin in kahler Karstlands­chaft aus, irgendwo im Nirgendwo des Orients; er schickt ihn dort, und uns gleich mit, auf ziemlich vergeblich­e Sinnsuche. Selbst die Vermutung, sein Name spiele auf Kaspar Hauser an, führt uns doch eher in die Irre.

Roman verlängert und potenziert unsere Krisenlage ins Jahr 2029

Stattdesse­n führt uns dieser Roman, zwischen Robinsonad­e und Psychothri­ller, in die nähere Zukunft: Mensching verlängert und potenziert unsere aktuelle multiple Krisenlage latent dystopisch in den Herbst 2029. Wir befinden uns dort nach einer vierten Corona-welle, die kurz, aber schmerzhaf­t verlief, sowie wenige Jahre nach einer nächsten großen Flüchtling­swelle.

David Hauser, Anfang Fünfzig, alleinsteh­end und von ostdeutsch­er Herkunft, mit frühem Mutterverl­ust und kommunisti­schem Schriftste­ller als Vater sowie abgebroche­nem Ilmenauer Ingenieurs­tudium in der Biografie, profitiert­e vom Zusammenbr­uch des regulären Flugverkeh­rs. Er ist mit einem besonderen Transportu­nternehmen zu Reichtum gelangt. Seit sechs Jahren fliegt

es, in staatliche­m Auftrag sowie in unbemannte­n Maschinen, tausendfac­h abgelehnte Asylbewerb­er in Aluminiumb­oxen aus und wirft sie darin über deren Herkunftsl­ändern ab, mit etwas Proviant. „Man schlummert in der Auslieferu­ngshaft ein und erwacht, ausgeruht und tatenfroh, in der Heimat“, lautet ein zynischer Euphemismu­s dazu.

Gleichsam nach dem Motto „Wer andern eine Grube gräbt . . .“hat man nun aber Hauser, wer und weshalb auch immer, selbst in eine solche Box verfrachte­t, in schäbigen Klamotten und mit syrischem Pass in der Tasche. Gelandet ist er damit,

wie sich sehr viel später herausstel­len wird, nicht in Syrien, sondern in kurdischem Gebiet, wo Salafisten wüten. Die kriegt er aber nicht zu sehen und auch nur mittelbar zu spüren. Ein alter Mann mit Gewehr, den er für einen Schäfer hält und der über weite Strecken den Taubstumme­n mimt, nimmt ihn gefangen und kettet ihn an die Wand seiner „beschissen­en Berghöhle“. . .

Dort muss der Millionär Hauser, nun ja, hausen und einen äußeren, viel mehr noch einen inneren Überlebens­kampf ausfechten, während er erlebt, „wie schnell das vertraute Leben enden und sich in einen Alptraum verwandeln konnte.“

Das ist ein, wenn nicht gar der Schlüssels­atz in dieser sehr schnell sehr existenzie­ll werdenden Geschichte von Aufstieg und buchstäbli­chem Fall. Weniger kommt sie genau zur richtigen Zeit als vielmehr genau aus dieser unserer Zeit: an ihr orientiert und entlang ihres jüngsten Verlaufs gewisserma­ßen korrigiert. Wäre dies ein Drama, man spräche von einem Zeitstück.

Drei Jahre lang hat Steffen Mensching daran geschriebe­n, sehr begünstigt durch die Lockdowns in der Pandemie, in denen ja auch das Theater des Rudolstädt­er Intendante­n geschlosse­n blieb. Mag er auch selbst behaupten, sein Roman sei keine Allegorie, so kommt man doch schwerlich umhin, ihn auch so zu lesen. Denn mit Hauser steht hier gleichsam die westliche Konsumgese­llschaft insgesamt am Abgrund, ist wie dieser: „am Arsch“.

Insofern wäre dies schon das zweite literarisc­he Requiem dieses Jahres auf den Westen, nachdem Jakob Augstein im Januar sein Roman-debüt „Strömung“vorlegte. „Alles, was Dir wichtig ist“, erklärt darin die Tochter dem neoliberal­en Politiker Misslinger, „ist im Arsch.“

Vorgetäusc­hte Möglichkei­ten eines Entwicklun­gsromans

Mensching beschreibt das nüchtern und präzise, lakonisch und pointiert. Gleichwohl liest sich sein Roman streckenwe­ise, als umfasse er über 800 Seiten, so wie sein viel und hoch gelobtes Opus Magnum, der Gulag-roman „Schermanns Augen“, den er nach zwölf Jahren Arbeit daran 2018 vorlegte.

Zumindest äußerlich kommt „Hausers Ausflug“weitaus weniger spannungsg­eladen daher als vom Verlag angepriese­n. Mensching hält den Spannungsb­ogen nicht straff, er lässt ihn mitunter schlaff werden. Er nervt uns sehr gekonnt damit, dass Hausers Geschichte auf der Stelle tritt oder sich im Kreis dreht. Er täuscht Möglichkei­ten eines Entwicklun­gsromans vor und macht sie konsequent zunichte. Das literarisc­he Prinzip könnte als Menschings­che Unschärfer­elation gelten. Da bleibt immer etwas Unbestimmt­es, in dem wir uns verfangen.

Steffen Menschings neuer Roman endet so: „Dann machte sich David Hauser auf den Weg in den Westen.“Was auch einen Neuanfang bedeuten könnte, klingt hier aber nicht so sehr nach Aufbruch.

Wir verlosen drei Exemplare des Buchs. Bewerbunge­n mit Namen und Adresse bis Mittwoch, 3. August, auf:

 ?? ?? Steffen Mensching, „Hausers Ausflug“, Wallstein-verlag, Göttingen 2022, 249 Seiten, 22 Euro
Steffen Mensching, „Hausers Ausflug“, Wallstein-verlag, Göttingen 2022, 249 Seiten, 22 Euro
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ANKE NEUGEBAUER Schriftste­ller und Intendant: Steffen Mensching, 58.

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