Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Industrie wappnet sich gegen Erdgasmangel
Netzbetreiber erfassen Einsparpotenziale – auch mit dem Ziel einer besten Abschaltreihenfolge im Ernstfall
Nordhausen. Aus Russland fließt kein Erdgas mehr nach Deutschland, das Gas aus anderen Quellen reicht nicht für alle. Noch ist das ein Szenario, nicht die Realität. Doch Politik und Wirtschaft bereiten sich darauf vor.
Die Bundesnetzagentur würde die Gasverteilung regeln. Im Notfall gibt sie den Netzbetreibern eine einzusparende Erdgasmenge vor. Diese müssten vor Ort entscheiden, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Im Südharz ist für das Kreisgebiet Nordhausen ein Tochterunternehmen der Thüringer Energie AG zuständig, in der Kreisstadt betreibt ein Tochterunternehmen der Energieversorgung Nordhausen (EVN) das Gasnetz.
Auch um mögliche Reduzierungspotenziale zu ermitteln, hat die Nordhausen Netz Gmbh bereits ihre rund 50 Industrie- und Gewerbekunden, die nicht zu den geschützten Kunden wie Krankenhäuser oder Pflegeheime zählen, angeschrieben. „Diese Potenziale fließen in eine Abschaltreihenfolge ein“, erklärt Geschäftsführer Jens Germer. Er sagt allerdings auch, dass das Potenzial – resultierend aus dem kurzfristigen Wechsel auf alternative Brennstoffe wie Öl – in Nordhausen „nicht exorbitant hoch“ist.
Die Reihenfolge der Abschaltungen orientiert sich an mehreren Parametern: „Der volks- und betriebswirtschaftliche Schaden soll so gering wie möglich sein. Auch sind Folgen für die Umwelt und den Arbeitsmarkt zu betrachten, ebenso die Kosten und Zeiten eines Herunterund Hochfahrens der Industrieprozesse“, erläutert Jens Germer.
Deusa könnte auf Stromproduktion aus Erdgas verzichten
Erdgas-großverbraucher gibt es in der hiesigen Wirtschaft einige. Die Gipsindustrie wie auch die Deusa International gehören dazu. Gebraucht wird in dem Bleicheröder Unternehmen mit jährlich rund 360 Gigawattstunden so viel Erdgas wie sonst etwa 18.000 Einfamilienhäuser zum Heizen benötigen. Denn die Kaliproduktion ist ein energieintensiver Prozess.
Etwa 50 Prozent des zurzeit gelieferten Erdgases fließt in die Stromerzeugung, erklärt Deusa-geschäftsführer Peter Davids. Würde kein Erdgas mehr fließen, könnte
stattdessen Strom zugekauft werden, freilich zu höheren Preisen. Eine Drosselung der Erdgaslieferungen um die Hälfte also könnte die Deusa verkraften. Erst recht,
wenn die geplante neue Solaranlage auf dem Bergwerksgelände in Sollstedt in Betrieb gegangen ist.
Doch braucht das Unternehmen eben auch für die Dampferzeuger zur Kaliproduktion Erdgas. „Da haben wir keine Alternative“, sagt Peter Davids. Schlimmstenfalls müsse die Produktion einschließlich des Solbetriebs eingestellt werden. Etwa 90 Arbeitskräfte – also nicht die im Bergversatz tätigen 160 Beschäftigten – wären betroffen.
Casea hat Produktion bereits gedrosselt
Beim Ellricher Gipsproduzenten Casea hängen rund 100 Jobs an den Erdgaslieferungen. Während das Osteröder Casea-gipswerk mit Braunkohle arbeitet, setzt man hier Gas ein, um den Gips zu mahlen und zu brennen. Wegen des enormen Preisanstiegs auf etwa das Zehnfache gegenüber den Preisen von 2020 beim Erdgas habe man seit April bereits die Produktion um mehr als zehn Prozent gedrosselt, erklärt Geschäftsführer Andreas Hübner. Die Produktivität bei gleicher Mitarbeiterzahl also ist geringer, die Produkte entsprechend teurer. Noch seien diese Preise am Markt durchsetzbar.
Bei Knauf in Rottleberode arbeitet man an Projektstudien, um mittelfristig zumindest Ersatz für Erdgas in Form alternativer Energien aufzubauen. Konkreter mag Werkleiter André Materlik noch nicht werden. Und: „Kurzfristig wird es um die Reaktivierung klassischer Energieträger wie Heizöl gehen.“Denn wie zurzeit soll das Gipsplatten-werk seine volle Kapazität weiter nutzen.
Schachtbau nutzt Erdgas nur zum Heizen von Hallen und Büros
Bei Schachtbau, dem größten Südharzer Industrieunternehmen, ist Erdgas für den Produktionsprozess kein Thema. Doch werden immerhin mehr als 550.000 Kubikmeter im Jahr zum Heizen von Hallen und Büros verbraucht. Das Schachtbauhochhaus wie auch die im Jahr 2007 errichteten Hallen werden zwar mittels Wärmepumpen beheizt. Doch kommen auch klassische Gasheizkessel zum Einsatz. Noch: „Wir sondieren in alle Richtungen, um Alternativen zu finden“, erklärt Projektmanager Dirk Kuprat. In Büros könnten elektrische Heizer genutzt werden, fürs Beheizen der Hallen eventuell Öl oder Flüssiggas.