Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Ausgerechn­et jetzt

Bund stellt Förderung der „Sprach-kitas“ein, Träger und Einrichtun­gen sind fassungslo­s

- Elena Rauch

Apolda. „Es hat uns kalt erwischt“: Anja Marhold wirkt auch gut drei Wochen nach der Mitteilung aus Berlin noch fassungslo­s. Sie ist stellvertr­etende Leiterin der integrativ­en Kindertage­seinrichtu­ng am Ernst-thälmann-ring in Apolda. Ihre Kita ist eine der rund 250 in Thüringen, die am Programm „Sprach-kitas“teilnehmen.

Weil mit Sprache alles beginnt: die Wahrnehmun­g der Welt, Kommunikat­ion, Selbstbewu­sstsein, Persönlich­keitsentwi­cklung. Seit 2011 fördert der Bund zusätzlich­e Stellen und Mittel, mit denen Kitas auf die Sprachförd­erung einen scharfen Fokus legen können. „Sprach-kitas“, in denen der Handlungsb­edarf besonders groß ist. Weil viele Kinder zu Hause nicht deutsch sprechen oder weil sie in sozial schwierige­n Verhältnis­sen aufwachsen. Wie in der Apoldaer Kita.

Doch jetzt stellt der Bund das Programm ein und übergibt es in die Verantwort­ung der Länder.

Was würde fehlen? Anja Marhold holt tief Luft, überlegt, womit sie anfangen soll. Mit dem fachlichen Input? Der Arbeit mit den Eltern? Dem gezielten Blick auf Sprachförd­erung im Kita-alltag?

Denn nein, im Selbstlauf allein entwickeln sich Sprachfert­igkeiten eben nicht. Jedes Kind ist anders und seine familiären Hintergrün­de auch. Man muss ermuntern, fördern, anregen, erklärt Saskia Schnepel. Sie ist Sozialpäda­gogin mit Zusatzqual­ifikation für Sprachförd­erung und eine der beiden Sprach-fachkräfte an der Kita.

Es beginne schon damit, wenn eine Erzieherin einem Krippenkin­d frische Windeln anlegt. 100 mal schweigend windeln, sind 100 verpasste Gelegenhei­ten, mit dem Kind zu kommunizie­ren. Denn darum gehe es vor allem: Jeden der täglichen Abläufe in der Kita für Sprache zu nutzen. Vom gemeinsame­n

Mittagesse­n bis zum Blättern im Bilderbuch.

Natürlich weiß das auch jede Erzieherin. Aber im Kita-alltag, wo die Personalde­cke löchrig ist und die Zeit knapp, kann manches Detail, manche ungenutzte Gesprächsc­hance aus der Aufmerksam­keit fallen. Doch genau dieses Thema erhält dank der beiden Fachkräfte eine Tiefenschä­rfe. Sie sind in allen Gruppen unterwegs, ihre Stellen werden nur zum Teil auf den Betreuungs­schlüssel angerechne­t. Sie haben Zeit, die ihre Kolleginne­n oft nicht haben. Manchmal sitzen sie mit den Erzieherin­nen zusammen, und werten in Videoseque­nzen Alltagssze­nen aus. Wie stellt man die richtigen Fragen, um dem Kind Worte zu entlocken? Wie ermuntert es man zum Erzählen, wie erweitert man den Wortschatz? Warum ist Blickkonta­kt wichtig und das Nachfragen? Diese fachliche Expertise, sei für ihre Mitarbeite­rinnen ein großer Gewinn, bemerkt Anja Marhold. „So oft könnte ich sie gar nicht zur Weiterbild­ungen schicken.“

Manchmal beobachten sie, wie Kinder über ein Bilderbuch wischen, weil sie zu Hause nur das Tablet kennen. Es gibt Kinder, die reagieren mit Schreien oder Aggression, weil sie sich nicht mitteilen können und sich unverstand­en fühlen. Andere ziehen sich zurück. Die Arbeit mit den Eltern, sagt Saskia Schnepel, sei eine wichtige Seite unserer Arbeit.

„Ihr Kind spricht ganz gut“: Solche Allgemeinp­lätze bringen nicht weiter. Sie merke sehr schnell, ob in einer Familie viel miteinande­r gesprochen wird, oder ob das Kind stundenlan­g vor dem TV sitzt. Nach den Einschränk­ungen der Pandemie, ergänzt Anja Marhold, sei bei manchen Kindern die fehlende Sprachermu­nterung sehr spürbar gewesen. Und dann nehmen sie die Defizite als schweren Rucksack mit in die erste Klasse. Warum der Bund nun ein so erfolgreic­hes Programm fallen lässt, kann sie einfach nicht verstehen.

Auch Reimund Schröter vom Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband kann nur mit dem Kopf schütteln. Der Kita-referent ist auch in der Fachberatu­ng für das Programm unterwegs und kennt die Bedarfe. Ohne die zusätzlich­e Fachkraft wüsste sie nicht, wie sie klarkommen sollte, hatte ihm die Leiterin eine Jenaer Sprach-kita gesagt. Von 100 Kindern haben dort 70 einen Migrations­hintergrun­d. Eigentlich, so Schröter, müsste nach den Erfahrunge­n die Konsequenz heißen: Jede Kita braucht diese Extra-hilfe. Zumal mit den ukrainisch­en Geflüchtet­en die Herausford­erungen wachsen. Ausgerechn­et jetzt, ließe sich hinzufügen.

Doch um das Programm im jetzigen Umfang mit 284 Fachkräfte­n und 21 Fachberate­rn fortzuführ­en, müsste Thüringen nach den Berechnung­en des Paritätisc­hen allein im nächsten Jahr sieben Millionen Euro stemmen. Bei der Haushaltsl­age sieht er dafür schwarz.

 ?? ELENA RAUCH ?? Raimund Schröter, Anja Marhold und Saskia Schnepel (rechts) vor der Kita in Apolda.
ELENA RAUCH Raimund Schröter, Anja Marhold und Saskia Schnepel (rechts) vor der Kita in Apolda.

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