Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Baerbocks Reise der leisen Töne
In Athen gedenkt die Außenministerin Holocaust-opfern, lehnt aber Reparationszahlungen ab
Die Begrüßung erfolgt per Faustgruß. „Wollt ihr etwas trinken?“, fragt Annalena Baerbock drei arabische Mädchen. Sie lächeln – und bekommen Wasser und Dosen mit Eistee. Die Außenministerin ist im Flüchtlingslager Schisto, rund 18 Kilometer vom Stadtzentrum Athens entfernt. Die Sonne brennt am Donnerstag bei 36 Grad durch den Pinienwald. Baerbock hört den Menschen zu, die von ihren Erlebnissen erzählen.
Mehr als 1350 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak wohnen in den 216 grauen Containern in Schisto. „Alle Einheiten haben Dusche und Toilette“, sagt der griechische Migrationsminister Panagiotis Mitarachi, ein Mann mit dichtem schwarzen Haar und dunkelblauem Anzug, der am Tisch neben Baerbock steht. Von dem neuesten Bericht der Eu-antibetrugsbehörde Olaf, in dem der griechischen Regierung und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex schwere Vorwürfe gemacht werden, habe er nur die Zusammenfassung gelesen, erklärt Mitarachi. Der „Spiegel“berichtet, dass Athen und Frontex bei der illegalen Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei – sogenannten Pushbacks – Hand in Hand zusammengearbeitet hätten. „Es gibt kein systemisches Versagen unserer Behörden. Sollten einzelne Fälle passiert sein, werden sie verfolgt“, so Mitarachi.
Nach einem Besuch im Athener Büro von Frontex klingt Baerbock fast wie ein Echo des griechischen Migrationsministers. „Offensichtlich hat es einzelne Fälle von Pushbacks gegeben – hier wurden bereits Maßnahmen ergriffen“, betont sie. Keine generelle Verurteilung Richtung Athen, stattdessen ein Appell zur Solidarität. „Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für die europäischen Außengrenzen. Wir brauchen eine gemeinsame Asylund Migrationspolitik.“Und sie plädiert für eine europäische Seenotrettung.
Erinnerung an die Terrorherrschaft im Zweiten Weltkrieg
Für Baerbock ist es ein Tag der leisen Töne. In der Holocaust-gedenkstätte legt die Außenministerin einen weißen Blumenstrauß auf einen Marmorstein. Er ist Teil einer Skulptur, die einen zusammengebrochenen Davidstern symbolisieren soll – Mahnmal für die Nazigräuel an den Juden. Baerbock, die ein schwarzes Kleid trägt, geht einen Schritt zurück, legt die Hände aufeinander. Eine Minute Stille.
In der Stadtkommandantur, einem Luftschutzkeller, der Hitlers Schergen von 1941 bis 1944 als Haftanstalt diente, geht sie durch die Gänge, in denen Widerstandskämpfer gefoltert wurden. Auf die Wände haben Insassen Botschaften mit Bleistiften oder ihren Fingernägeln eingeritzt: ein Auto, ein Schiff, ein Spruch wie „Hoffentlich geht diese schwere Zeit vorüber“. Baerbock bleibt stehen, lässt die Einträge auf sich wirken. „Längst nicht alle wissen, welches Ausmaß die Brutalität und Terrorherrschaft Deutschlands im Zweiten Weltkrieg hatte. Die Erinnerung daran zu bewahren, ist mir eine Herzensangelegenheit“, sagte sie zuvor der griechischen Zeitung „Ta Nea“.
Alles hat an diesem Tag eine Prise Demut, die Tonlage ist weich. Als Grünen-chefin hatte Baerbock noch eine härtere Rhetorik. Im September 2020 gingen die Bilder des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria auf der Insel Lesbos um die Welt. 12.000 Menschen, die in dem völlig überfüllten Camp unter himmelschreienden hygienischen Bedingungen hausten, verloren über Nacht ihre Unterkunft. „Moria ist das Symbol für das Versagen europäischer Flüchtlingspolitik“, polterte Baerbock damals. Deutschland solle mehr Flüchtlinge aufnehmen. „Wir haben Platz.“
Es war eine laute Anklage gegen die Regierungen in Griechenland, Deutschland und die EU. Die Grünen-frontfrau bespielte ein Leibund Magenthema ihrer Partei mit Leidenschaft. Aber nicht nur die Führung in Athen bekam ihr Fett weg, auch den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan ging Baerbock immer wieder scharf an. Mit Blick auf die europäische Asylpolitik nannte die Grünenvorsitzende Erdogan im vergangenen September als Beispiel für einen „antidemokratischen Akteur“, zu dessen „Spielball“Europäerinnen und Europäer geworden seien.
Heute, als deutsche Chefdiplomatin, gibt sich Baerbock gegenüber Griechenland und der Türkei verbindlicher und weniger schroff. Beide Länder liegen wegen türkischen Gebietsansprüchen und Erdgasbohrungen in der Ostägäis in einem schweren Konflikt. Die Außenministerin will bei ihren bis Sonnabend andauernden Besuchen in Athen, Istanbul und Ankara Brücken bauen, vermitteln.
Die Doppelvisite bei den beiden Nato-partnern sei ihr gerade in diesen schwierigen Zeiten wichtig, in denen Moskau versuche, das westliche Bündnis zu spalten, unterstreicht die Grünen-politikerin. „Nie kam es mehr auf den Zusammenhalt zwischen Nato-verbündeten und europäischen Partnern an.“Reibungsflächen minimieren, Kompromissspielräume ausloten, den Schulterschluss gegen Russland organisieren – so lautet die Devise der Außenministerin. Plötzlich ist sie Realpolitikerin.
Auch bei einem Reizthema wie den griechischen Reparationsforderungen an Deutschland gibt sich Baerbock versöhnlich. „Zu einer guten Freundschaft gehört, dass man nicht bei allen Punkten einer Meinung ist“, sagt sie. Die neue Bundesregierung sei hier „nicht zu einer neuen Rechtsauffassung gekommen“, auch das sagte sie in der Zeitung „Ta Nea“. Und blickt zugleich nach vorn. „Es kommt darauf an, aus einer gemeinsamen Geschichte – bei der wir Deutsche eine schwere Schuld tragen – eine gemeinsame Zukunft zu bauen.“
Nie kam es mehr auf den Zusammenhalt zwischen Nato-verbündeten und europäischen Partnern an. Annalena Baerbock (Grüne), Außenministerin