Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Baerbocks Reise der leisen Töne

In Athen gedenkt die Außenminis­terin Holocaust-opfern, lehnt aber Reparation­szahlungen ab

- Michael Backfisch

Die Begrüßung erfolgt per Faustgruß. „Wollt ihr etwas trinken?“, fragt Annalena Baerbock drei arabische Mädchen. Sie lächeln – und bekommen Wasser und Dosen mit Eistee. Die Außenminis­terin ist im Flüchtling­slager Schisto, rund 18 Kilometer vom Stadtzentr­um Athens entfernt. Die Sonne brennt am Donnerstag bei 36 Grad durch den Pinienwald. Baerbock hört den Menschen zu, die von ihren Erlebnisse­n erzählen.

Mehr als 1350 Flüchtling­e aus Syrien, Afghanista­n oder dem Irak wohnen in den 216 grauen Containern in Schisto. „Alle Einheiten haben Dusche und Toilette“, sagt der griechisch­e Migrations­minister Panagiotis Mitarachi, ein Mann mit dichtem schwarzen Haar und dunkelblau­em Anzug, der am Tisch neben Baerbock steht. Von dem neuesten Bericht der Eu-antibetrug­sbehörde Olaf, in dem der griechisch­en Regierung und der europäisch­en Grenzschut­zagentur Frontex schwere Vorwürfe gemacht werden, habe er nur die Zusammenfa­ssung gelesen, erklärt Mitarachi. Der „Spiegel“berichtet, dass Athen und Frontex bei der illegalen Rückführun­g von Flüchtling­en in die Türkei – sogenannte­n Pushbacks – Hand in Hand zusammenge­arbeitet hätten. „Es gibt kein systemisch­es Versagen unserer Behörden. Sollten einzelne Fälle passiert sein, werden sie verfolgt“, so Mitarachi.

Nach einem Besuch im Athener Büro von Frontex klingt Baerbock fast wie ein Echo des griechisch­en Migrations­ministers. „Offensicht­lich hat es einzelne Fälle von Pushbacks gegeben – hier wurden bereits Maßnahmen ergriffen“, betont sie. Keine generelle Verurteilu­ng Richtung Athen, stattdesse­n ein Appell zur Solidaritä­t. „Wir haben eine gemeinsame Verantwort­ung für die europäisch­en Außengrenz­en. Wir brauchen eine gemeinsame Asylund Migrations­politik.“Und sie plädiert für eine europäisch­e Seenotrett­ung.

Erinnerung an die Terrorherr­schaft im Zweiten Weltkrieg

Für Baerbock ist es ein Tag der leisen Töne. In der Holocaust-gedenkstät­te legt die Außenminis­terin einen weißen Blumenstra­uß auf einen Marmorstei­n. Er ist Teil einer Skulptur, die einen zusammenge­brochenen Davidstern symbolisie­ren soll – Mahnmal für die Nazigräuel an den Juden. Baerbock, die ein schwarzes Kleid trägt, geht einen Schritt zurück, legt die Hände aufeinande­r. Eine Minute Stille.

In der Stadtkomma­ndantur, einem Luftschutz­keller, der Hitlers Schergen von 1941 bis 1944 als Haftanstal­t diente, geht sie durch die Gänge, in denen Widerstand­skämpfer gefoltert wurden. Auf die Wände haben Insassen Botschafte­n mit Bleistifte­n oder ihren Fingernäge­ln eingeritzt: ein Auto, ein Schiff, ein Spruch wie „Hoffentlic­h geht diese schwere Zeit vorüber“. Baerbock bleibt stehen, lässt die Einträge auf sich wirken. „Längst nicht alle wissen, welches Ausmaß die Brutalität und Terrorherr­schaft Deutschlan­ds im Zweiten Weltkrieg hatte. Die Erinnerung daran zu bewahren, ist mir eine Herzensang­elegenheit“, sagte sie zuvor der griechisch­en Zeitung „Ta Nea“.

Alles hat an diesem Tag eine Prise Demut, die Tonlage ist weich. Als Grünen-chefin hatte Baerbock noch eine härtere Rhetorik. Im September 2020 gingen die Bilder des abgebrannt­en Flüchtling­slagers Moria auf der Insel Lesbos um die Welt. 12.000 Menschen, die in dem völlig überfüllte­n Camp unter himmelschr­eienden hygienisch­en Bedingunge­n hausten, verloren über Nacht ihre Unterkunft. „Moria ist das Symbol für das Versagen europäisch­er Flüchtling­spolitik“, polterte Baerbock damals. Deutschlan­d solle mehr Flüchtling­e aufnehmen. „Wir haben Platz.“

Es war eine laute Anklage gegen die Regierunge­n in Griechenla­nd, Deutschlan­d und die EU. Die Grünen-frontfrau bespielte ein Leibund Magenthema ihrer Partei mit Leidenscha­ft. Aber nicht nur die Führung in Athen bekam ihr Fett weg, auch den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan ging Baerbock immer wieder scharf an. Mit Blick auf die europäisch­e Asylpoliti­k nannte die Grünenvors­itzende Erdogan im vergangene­n September als Beispiel für einen „antidemokr­atischen Akteur“, zu dessen „Spielball“Europäerin­nen und Europäer geworden seien.

Heute, als deutsche Chefdiplom­atin, gibt sich Baerbock gegenüber Griechenla­nd und der Türkei verbindlic­her und weniger schroff. Beide Länder liegen wegen türkischen Gebietsans­prüchen und Erdgasbohr­ungen in der Ostägäis in einem schweren Konflikt. Die Außenminis­terin will bei ihren bis Sonnabend andauernde­n Besuchen in Athen, Istanbul und Ankara Brücken bauen, vermitteln.

Die Doppelvisi­te bei den beiden Nato-partnern sei ihr gerade in diesen schwierige­n Zeiten wichtig, in denen Moskau versuche, das westliche Bündnis zu spalten, unterstrei­cht die Grünen-politikeri­n. „Nie kam es mehr auf den Zusammenha­lt zwischen Nato-verbündete­n und europäisch­en Partnern an.“Reibungsfl­ächen minimieren, Kompromiss­spielräume ausloten, den Schultersc­hluss gegen Russland organisier­en – so lautet die Devise der Außenminis­terin. Plötzlich ist sie Realpoliti­kerin.

Auch bei einem Reizthema wie den griechisch­en Reparation­sforderung­en an Deutschlan­d gibt sich Baerbock versöhnlic­h. „Zu einer guten Freundscha­ft gehört, dass man nicht bei allen Punkten einer Meinung ist“, sagt sie. Die neue Bundesregi­erung sei hier „nicht zu einer neuen Rechtsauff­assung gekommen“, auch das sagte sie in der Zeitung „Ta Nea“. Und blickt zugleich nach vorn. „Es kommt darauf an, aus einer gemeinsame­n Geschichte – bei der wir Deutsche eine schwere Schuld tragen – eine gemeinsame Zukunft zu bauen.“

Nie kam es mehr auf den Zusammenha­lt zwischen Nato-verbündete­n und europäisch­en Partnern an. Annalena Baerbock (Grüne), Außenminis­terin

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/ AFP SOTIRIS DIMITROPOU­LOS Offenes Ohr für die Sorgen der Geflüchtet­en: Annalena Baerbock im Lager Schisto bei Athen.

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