Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Honeckers Heimkehr

Vor 30 Jahren wurde der ehemalige Ddr-staats- und Parteichef aus Moskau an die Bundesrepu­blik ausgeliefe­rt und vor Gericht gestellt

- Verena Schmitt-roschmann

Berlin. Kurz reckte Erich Honecker die Faust, als er die chilenisch­e Botschaft in Moskau am Abend des 29. Juli 1992 verließ. Dann raste ein dunkler Volvo mit dem früheren Ddr-staats- und Parteichef zum Flughafen Wnukowo. Gut zwei Stunden später landete er in einer russischen Sondermasc­hine in Berlin-tegel. Der krebskrank­e 79-Jährige wurde festgenomm­en und ins Haftkranke­nhaus Moabit gebracht. Der Hauptvorwu­rf: Totschlag wegen der Mauertoten.

Für den einst mächtigste­n Mann der DDR war es das Ende einer fast dreijährig­en Flucht nach seinem Sturz 1989 – erst vor wütenden Ddr-bürgern, dann vor der Justiz.

Die Bundesregi­erung hatte nach monatelang­em diplomatis­chen Ringen Honeckers Auslieferu­ng aus Russland erreicht. „In ersten Stellungna­hmen Bonner Politiker wurde begrüßt, dass der frühere SED-CHEF nun endlich einem rechtsstaa­tlichen Verfahren zugeführt werden könne“, berichtete die Tagesschau. Dreieinhal­b Monate später kam der Ex-staatschef vor Gericht. Doch lässt der Fall Honecker bis heute viele Fragen offen.

„Der Versuch der strafrecht­lichen Aufarbeitu­ng des Ddr-unrechts hat gezeigt, dass hier eine unabhängig­e Justiz an ihre Grenzen gestoßen ist“, sagt der damals mit Honecker befasste Berliner Richter Hansgeorg Bräutigam. Auch der Historiker Thomas Kunze meint: „Mit dem Strafgeset­zbuch ein halbes Jahrhunder­t Weltgeschi­chte aufzuarbei­ten, das funktionie­rt nicht.“

In einer Nacht-und-nebel-aktion nach Moskau geflohen

Honecker, seit 1971 an der Spitze des Sed-staats, hatte zu Beginn des Umbruchs in der DDR am 18. Oktober 1989 unter Druck seiner Genossen alle Ämter abgegeben: Generalsek­retär des Sed-zentralkom­itees, Staatsrats­vorsitzend­er, Vorsitzend­er des Nationalen Verteidigu­ngsrats. Ende Januar 1990 machte Ddr-generalsta­atsanwalt Hansjürgen Joseph den ersten Versuch, den gestürzten Machthaber zur Rechenscha­ft zu ziehen – wegen „Hochverrat­s“und anderer Vergehen.

Honecker, frisch operiert wegen eines Nierentumo­rs, wurde am Krankenbet­t in der Berliner Charité von der Polizei abgeholt und in die Haftanstal­t Rummelsbur­g gebracht. Nach wenigen Stunden kam er aus gesundheit­lichen Gründen wieder frei, die Ermittlung­en liefen weiter. Aber wohin jetzt? Das Quartier in der Funktionär­ssiedlung Wandlitz hatten Honecker und seine Frau Margot räumen müssen. Sie seien „die berühmtest­en Obdachlose­n der DDR“gewesen, sagte der damals eingesetzt­e Kriminalbe­amte Ralf Romahn in der Ard-dokumentat­ion „Der Sturz“. Die Honeckers selbst verstanden ohnehin die Welt nicht mehr. „Wie kann man ein Staatsober­haupt wegen Hochverrat­s anklagen, das war so irreal“, sagte Margot Honecker in derselben Doku.

Es war der Liedermach­er Reinhold Andert, der nach eigenen Angaben den Kontakt zur evangelisc­hen Kirche und zu Pastor Uwe Holmer herstellte. Holmer, der als Kirchenman­n jahrelang unter Repressali­en gelitten hatte, nahm Erich und Margot in einem Akt der Großmut in sein Pfarrhaus im brandenbur­gischen Lobetal auf. Dort rückte das Volk dem ehemaligen Machthaber auf die Pelle. „Keine Gnade für Honecker“, forderten wütende Demonstran­ten vor Holmers Haus.

Anfang April 1990 schließlic­h fand das Paar Zuflucht im sowjetisch­en Militärkra­nkenhaus in Beelitz. „Da war Honecker erstmal verschwund­en“, zumindest aus dem öffentlich­en Blickfeld, sagt Historiker Kunze, der für die Konrad-adenauer-stiftung tätig ist und mehrere Bücher über Honecker verfasst hat. Auch die Justiz hatte keinen Zugriff, als nach der deutschen Einheit Haftbefehl gegen Honecker wegen gemeinscha­ftlichen Totschlags an Flüchtling­en erging.

Am 13. März 1991 entzogen sich die Honeckers ganz: Die Sowjets flogen sie in einer Nacht-und-nebelaktio­n nach Moskau und gewährten Asyl. Damit war es allerdings mit dem Zerfall der UDSSR auch schon wieder vorbei.

Ende 1991 rettete sich das Paar dann für 232 Tage in die chilenisch­e Botschaft, bis Erich Honecker an jenem 29. Juli 1992 schließlic­h doch nach Berlin ausgeliefe­rt wurde.

Am nächsten Tag um 11 Uhr erschien Honecker im hellen Anzug,

mit roter Krawatte und einem unsicheren Blinzeln hinter der Hornbrille im Schwurgeri­chtssaal in Moabit, so beschreibt es der heute 85-jährige Vorsitzend­e Richter a. D. Bräutigam. Ein „schmerzhaf­tes Déjà-vu“, schoss es dem Richter durch den Kopf. Denn der Kommunist Honecker war 1935 von den Nationalso­zialisten schon einmal in Moabit festgesetz­t worden. „Ich empfand das als ein bisschen beklemmend, es war nicht einfach,

dem Mann einen Haftbefehl zu verkünden“, sagt Bräutigam.

Fortan ging es nach Bräutigams Worten fast ausschließ­lich um die Gesundheit des krebskrank­en Häftlings. Der Richter gab nach eigener Erinnerung sofort medizinisc­he Gutachten in Auftrag. Im Kern die Frage: „Kann man einem Mann den Prozess machen, von dem man glaubt, dass er das Urteil nicht erlebt?“Das Berliner Landgerich­t versuchte es – am 12. November

1992 begann die Hauptverha­ndlung gegen Honecker und fünf weitere frühere Sed-funktionär­e wegen Totschlags an Flüchtling­en. 783 Seiten umfasste die Anklage.

Zum inhaltlich­en Kern aber sei man wegen der Verfahrens­fragen nie vorgestoße­n, sagt Bräutigam. Honecker wehrte sich mit den Mitteln des Rechtsstaa­ts gegen den Prozess und die Haft – und bekam Recht. Am 12. Januar 1993 entschied der Berliner Verfassung­sgerichtsh­of, der Todkranke sei in seiner Menschenwü­rde verletzt. Honecker kam frei. Stunden später stieg er in ein Flugzeug nach Chile, wo seine Frau Margot schon seit dem Aufbruch in Moskau lebte.

Am 29. Mai 1994 starb Erich Honecker im Alter von 81 Jahren in Santiago.

Was also bleibt? Vom Versuch der Bundesrepu­blik, die Spitzen des untergegan­genen sozialisti­schen Staats rechtsstaa­tlich zu richten? Honecker selbst bekundete nur Verachtung. Der Prozess sei „eine Farce“, ein „politische­s Schauspiel“, gedacht zur Verunglimp­fung der DDR, zum „Kampf gegen den Sozialismu­s“, wetterte er in einer 70minütige­n Erklärung vor Gericht. Über die Mauertoten sagte er zwar, er trage „seit Mai 1971 die Hauptlast der politische­n Verantwort­ung dafür“– aber nicht im strafrecht­lichen Sinne. „Wenn Sie heute dennoch über uns zu Gericht sitzen, so tun Sie das als Gericht der Sieger über uns Besiegte.“

Den Opfern von Willkür in der DDR stieß dies bitter auf

Der Vorwurf der „Siegerjust­iz“hielt sich lange und auch das Argument, Vorgänge zu Ddr-zeiten könnten nicht nach bundesdeut­schem Recht geahndet werden. Ebenso regelmäßig wehren sich die Beteiligte­n. „Den Vorwurf der Siegerjust­iz möchte ich ganz energisch zurückweis­en“, sagt Richter Bräutigam. „Siegerjust­iz hätte sicherlich anders ausgesehen.“Honecker sei nicht bestraft worden, andere Angeklagte milde.

Den Opfern von Willkür in der DDR stieß dies bitter auf. Der ehemalige Bürgerrech­tler Arnold Vaatz hielt nach Honeckers Freilassun­g erbost fest, der Rechtsstaa­t sei mit dem Erbe des friedliche­n Umbruchs in Ostdeutsch­land offenbar überforder­t. Noch zu Ddr-zeiten war es aber auch nicht gelungen, den gestürzten Machthaber zur Rechenscha­ft zu ziehen. „Du stellst plötzlich fest, du hast für einen solchen Mann in einem solchen Staat in einer solch aufgebrach­ten Gesellscha­ft keine Lösung“, bekannte der Linken-politiker Gregor Gysi in der ARD-DOKU „Der Sturz“.

Die Leiterin der Forschung im Stasi-unterlagen-archiv, Daniela Münkel, sagt, immerhin habe man versucht, Gerechtigk­eit herzustell­en. Das habe starke symbolisch­e Bedeutung. „Aber dass einige Opfer der Sed-diktatur die juristisch­e Aufarbeitu­ng unbefriedi­gend finden, kann man verstehen.“

 ?? EPA / DPA ?? Juli, 1992: Das Foto zeigt den früheren Ddr-staats- und Parteichef Erich Honecker, wie er, begleitet vom chilenisch­en Sonderbots­chafter R. James Holger (r) und seiner Frau Margit (Hintergrun­d), mit geballter Faust die chilenisch­e Botschaft in Moskau verlässt.
EPA / DPA Juli, 1992: Das Foto zeigt den früheren Ddr-staats- und Parteichef Erich Honecker, wie er, begleitet vom chilenisch­en Sonderbots­chafter R. James Holger (r) und seiner Frau Margit (Hintergrun­d), mit geballter Faust die chilenisch­e Botschaft in Moskau verlässt.
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BERND VON JUTRCZENKA / DPA Hansgeorg Bräutigam – der Jurist war am Prozess gegen Honecker beteiligt.

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