Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Adam soll’s besser machen als Armin
Krankenkasse Barmer will Neustart bei Medikamentensicherheit und bringt eigene Modelle mit
Ein 38-jähriger Mann geht mit einer bakteriellen Bronchitis zum Hausarzt und bekommt Antibiotika verschrieben. Ein Neurologe verordnete dem Patienten auch ein Mittel gegen Depression. Beide Wirkstoffe vertragen sich nicht – es kommt zum plötzlichen Herztod.
Eine 28-jährige Patientin leidet unter Epilepsie und nimmt Valproinsäure ein. Sie wird schwanger. Der Gynäkologe weiß nichts über das Medikament – das Kind kommt missgebildet zur Welt. Zwei Beispiele für Arzneikomplikationen.
„Jährlich ließen sich bundesweit 65.000 bis 70.000 Todesfälle vermeiden, wenn Ärzte und Apotheker besser über die Medikamente ihrer Patienten informiert wären“, sagt Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Thüringen.
Im jüngsten Arzneimittelreport beschäftigt sich die Krankenkasse mit dem Thema Polypharmazie. Davon spricht man, wenn Patienten mehr als fünf Medikamente gleichzeitig einnehmen. Analysiert werden Arzneimitteltherapien über einen Zeitraum von zehn Jahren. „Im Schnitt besucht jeder Thüringer ab 40 in dieser Zeit 20 Ärzte, erhält 38 Diagnosen und 80 Rezepte mit 20 verschiedenen Wirkstoffen. Das sind 126 Arzneipackungen“, sagt Dziuk. Bei den vulnerablen Gruppen der Älteren und Kränkeren seien es 33 Ärzte, 61 Diagnosen und 175 Rezepte -- oder knapp 300 Packungen. Therapien seien so komplex wie nie zuvor, Medikamentenpläne oft unvollständig. Für Ärzte sei es schwer, den Überblick zu behalten, so die Kassenchefin.
Hilfe verspricht sich die Barmer von mehr Digitalisierung. Dabei baue man auf drei von der Kasse initiierte Innovationsfondsprojekte, die unter anderem vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gefördert wurden. Adam (Anwendung für ein digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-management) versorgt Ärzte mit bei der Krankenkasse gespeicherten Daten zur Vorgeschichte von Patienten – wenn diese zustimmen. Top (Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit) ermöglicht diesen Zugriff auch für Kliniken, damit diese im Notfall wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ergänzt werden beide Programme durch Erika (E-rezept als Element interprofessioneller Versorgungspfade
für kontinuierliche Arzneimitteltherapiesicherheit). Genutzt werden das elektronische Rezept und die in Apotheken entstehenden Daten für eine zentrale Dokumentation ausgehändigter Medikamente. So sind selbst bei Rückrufen einzelne Chargen Patienten direkt zuzuordnen.
Dass Kassen so viele Daten hergeben, ist ein Paradigmenwechsel, gesteht Dziuk. In den Testregionen – Thüringen war nicht dabei – sei die Zustimmung allerdings durchschlagend gewesen. Auch die Ähnlichkeit von Adam zu Armin, der auf Eis gelegten „Arzneimittelinitiative für Thüringen und Sachsen“der AOK, entging der Barmerchefin nicht. „Bei Armin mussten Apotheker die Therapien der Patienten händisch aufnehmen. Adam nutzt Daten, die sowieso automatisch erfasst werden“, sagt die Thüringerin.
Dziuk ist sich sicher: Alle Programme seien reif für die Regelversorgung. Dafür aber brauche es kassenund sektorenübergreifend Mitstreiter sowie Gesetzesänderungen. Beim Bundesgesundheitsminister habe Adam sich schon vorgestellt – und wohl eine gute Figur gemacht.