Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Im Strömungsk­anal

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Menschen, die mich kennen, und jene, die freundlich­erweise meine Texte lesen, haben lernen müssen: Ich habe sehr gerne recht. (Als Journalist, wie schön, darf ich sogar im Nachhinein recht haben.)

So halte ich es, nur zum Beispiel, für ausreichen­d belegt, dass die aktuelle Erwärmung des Weltklimas vor allem menschenge­macht ist, dass das Sars-cov-2-virus eine Pandemie verursacht­e und dass Russland die Ukraine aus imperialen Gründen überfallen hat.

Das mag jetzt nicht sonderlich überrasche­nd klingen. Aber ich bin mir sicher, dass auch die Existenz des Energieerh­altungssat­zes und der Gravitatio­nskraft bestritten würden, wenn deshalb der Strom teurer würde oder es, Bhakdi behüte, eine Maskenpfli­cht gäbe.

Aus den oben genannten Überzeugun­gen folgt für mich denklogisc­h, dass die Menschheit all das gegen die Klimaerwär­mung tun muss, was sie auf demokratis­chem Wege tun kann, und sich ansonsten rasch anpassen sollte. Zudem können für mich in einer Pandemie – so wie in anderen Katastroph­enszenarie­n auch – zeitweilig­e Freiheitse­ingriffe begründbar sein. Und ja, ich halte es auch für sehr richtig, dass die Ukraine nicht nur politisch und finanziell, sondern auch militärisc­h unterstütz­t wird.

Allerdings, hüstel, war ich auch schon in der DDR ein Rechthaber. Damals hielt ich den Sozialismu­s für eine gute Staatsform, schließlic­h war sie wissenscha­ftlich, dialektisc­h und so weiter bewiesen. Sie wurde allerdings aus meiner, von den Eltern geborgten Sicht nur eher schlecht ausgeführt – was schon reichte, dass mir mein Geschichts­lehrer staatsfein­dliche Ansichten unterstell­te.

Dabei hatte ich den Kern der Propaganda gekauft. Die Nato war für mich ebenso schlecht wie der Doppelrake­tenbeschlu­ss und der angloameri­kanische Imperialis­mus insgesamt. Zwar glaubte ich bestimmt nicht an die friedensst­iftende Wirkung der in meiner Wohnnähe stationier­ten Ss-20-raketen, aber ich meinte doch, dass allein die Amerikaner mit dem Wettrüsten-unfug angefangen hatten. Erst später begriff ich, dass es sich vielleicht doch etwas komplizier­ter verhielt.

Natürlich, ich war in der DDR minderjähr­ig. Da lässt es sich leichter selbst verzeihen. Aber wie ich an dieser Stelle schon mal schrieb: Ich hatte erfahren, wie sich Manipulati­on, Autosugges­tion, Bequemlich­keit, Opportunis­mus und Angst gegenseiti­g ergänzen können.

Der Staat, in dem ich jetzt lebe, ist ganz anders als die DDR. Er ist demokratis­ch, mit Gewaltente­ilung, Meinungs- und Pressefrei­heit. Er ist ein Rechtsstaa­t, der seine Bürger nicht wegen ihrer öffentlich geäußerten Meinung verfolgt oder einsperrt.

Aber Manipulati­on, Autosugges­tion, Bequemlich­keit, Opportunis­mus und Angst existieren dort ebenso wie in jeder anderen Gemeinscha­ft von Menschen. Zudem hat jede Freiheit ihre Grenzen. In Deutschlan­d werden diese Grenzen durch das Grundgeset­z markiert. Die freiheitli­ch-demokratis­che Grundordnu­ng und die daraus abgeleitet­en Gesetze sind zu beachten – wobei der Staat, wenn er mutmaßlich­e Verstöße ahnden will, den Rechtsweg zu beachten hat.

Erstaunlic­herweise wollen dies viele Menschen nicht wahrhaben. Zusätzlich empfinden sie es als skandalös, ja als fast schon diktatoris­ch, dass eine Mehrheitsm­einung, neudeutsch Mainstream genannt, existieren darf. Dabei ist ein Mainstream sogar notwendig, denn ohne einen Grundkonse­ns, auf den sich eine Mehrheit einigen kann, funktionie­rt selbst eine freie Gesellscha­ft nicht.

Natürlich kann der Mainstream sehr mächtig werden – und sehr schnell, zumal er ständig mäandert oder gelegentli­ch ganz seine Richtung verändert. Menschen, die eben noch bequem mitschwamm­en, finden sich plötzlich in der Gegenström­ung wieder, kämpfen gegen Strudel oder treiben plötzlich orientieru­ngslos am Rande. Das fühlt sich gar nicht gut für sie an.

Insbesonde­re jene, die in der DDR mit einem reklameges­chwängerte­n Bild vom grenzenlos freien Westen voller Verwöhnaro­ma groß wurden, fühlen sich dann wie einst im Mai beim Pioniernac­hmittag oder der Brigadesit­zung mit dem Parteisekr­etär.

So falsch diese Gleichsetz­ung auch ist: Das Gefühl ist da, und es wird schamlos ausgenutzt von Demagogen, die tatsächlic­h von einer Diktatur träumen. Daran sollten immer jene denken, die gerade im Hauptstrom reisen und meinen, immer, auf jeden Fall und unbedingt recht haben zu müssen.

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Martin Debes hat wieder seinen inneren Jungpionie­r befragt

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