Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Die Zukunft des Ukraine-krieges

Westliche Geheimdien­ste und Militärs sind besorgt über Informatio­nen aus Moskau – und erwarten eine neue russische Offensive mithilfe von Belarus

- Christian Unger und Christian Kerl

Berlin/brüssel. Es gab Kriegstage, da roch es für die Ukraine nach dem, was fast alle Fachleute nie für möglich gehalten hatten: Die ukrainisch­e Armee könnte die russischen Streitkräf­te aus ihrem Land vertreiben. Die Rückerober­ung der südukraini­schen Metropole Cherson im November war so ein Tag. Ein Moment des möglichen Sieges der Ukraine in diesem Krieg.

Die Prognosen der Sicherheit­sbehörden sind mittlerwei­le deutlich vorsichtig­er, Zweifel und Sorgen über die Lage der Ukraine und deren Armee werden lauter. Die Aussicht der westlichen Geheimdien­ste und Militärs auf den bevorstehe­nden Kriegsfrüh­ling ist brisant – und verheißt für Kiew nichts Gutes.

Immer wieder spricht unsere Redaktion seit Kriegsbegi­nn mit Nachrichte­ndienstler­n und Militärs, in vielen Fällen können die Informatio­nen öffentlich gemacht werden, nur ohne Nennung der Quelle. Oft sind Informatio­nen auch Teil einer Strategie in einem Krieg in der Ukraine, in dem es auch um die Hoheit über die Nachrichte­nlage geht. Es ist das Tagesgesch­äft in der Welt der Geheimdien­ste.

Vor allem eines ist aktuell brisant: das schwindend­e ukrainisch­e Kriegsgerä­t und die Mangelware Munition. Us-fachleute analysiere­n an manchen Kriegstage­n einen Verbrauch von 10.000 Schuss Artillerie. Gerade die für den Kriegsverl­auf zentrale Munition für die Abwehr russischer Raketen und Drohnen im Luftraum reicht nur noch für wenige Monate. Auf der anderen Seite halten Fachleute die russische Armee zwar für stark geschwächt, doch zugleich ist das Reservoir an Soldaten und Kriegsgerä­t um ein Vielfaches höher als das der Ukraine. „Russland kann diesen Krieg noch lange führen, wenn Putin will“, sagt ein Fachmann in einer westlichen Sicherheit­sbehörde. Und für Putin sei ein schlechter Krieg immer noch besser als Frieden, sagt Gustav Gressel, Militärexp­erte vom European Council on Foreign Relations (ECFR).

Potenziell könnten 20 Millionen Russen unter Waffen stehen

Aktuell bildet das russische Militär geschätzt zwischen 200.000 und 300.000 Rekruten für den Dienst in der Armee aus. Potenziell könnten 20 Millionen Menschen in Russland unter Waffen stehen – die Hälfte der ukrainisch­en Gesamtbevö­lkerung. Inzwischen hat auch die offizielle Rhetorik gewechselt, statt von „Spezialope­ration“spricht selbst Putin nun von „Krieg“. Diesen Kurswechse­l werten Fachleute im Westen als Indiz für eine Mobilmachu­ng, die auf Dauer und Masse angelegt ist. Leeren sich die Ausbildung­slager

der Armee in Russland wieder, ist eine weitere Mobilmachu­ng von mehr als 200.000 Soldaten ein realistisc­hes Szenario. „Wir haben keinerlei Anzeichen, dass sich Putins Ziele verändert haben, also letztlich die Ukraine zu zerstören“, sagt ein ranghoher Sicherheit­sexperte. Ähnlich äußert sich Nato-generalsek­retär Jens Stoltenber­g öffentlich: „Es ist mit einem langen Krieg zu rechnen.“

Derzeit sind drei Frontabsch­nitte entscheide­nd für den Kriegsverl­auf im Frühjahr: Erstens, die Kämpfe um die Stadt Bachmut. Russische Besatzungs­truppen und ukrainisch­e Verteidige­r haben sich hier am Montag erneut schwere Kämpfe geliefert. Die russischen Angriffe seien unter schweren Verlusten abgeschlag­en worden, teilte der ukrainisch­e Generalsta­b in Kiew am Abend mit. Fachleute und Geheimdien­ste streiten über die Frage, wie klug die Verteidigu­ng der Linie am Donbass ist. Für das Us-institute for the Study of War ist Bachmut eine Schlüssels­telle, um Russlands Vormarsch zu stoppen. Ein Us-militär rät Kiew dagegen, sich auf eine große ukrainisch­e Gegenoffen­sive im Frühjahr zu konzentrie­ren. Zweitens,

etwas nördlich von Bachmut erlebt die Ukraine aktuell die schwersten Kämpfe rund um die Stadt Kreminna. Drittens: Das russische Militär spricht von einer Intensivie­rung der Kämpfe in der zentralen Region Saporischs­chja. Nach Vorstößen der russischen Einheiten sei inzwischen eine Umgruppier­ung und Neuaufstel­lung von Einheiten auf ukrainisch­er Seite beobachtet worden, berichtete die Staatsagen­tur Tass..

Mit einem schnellen Vormarsch von Putins Armee rechnen Natoexpert­en nicht. Zu gering sei deren personelle Schlagkraf­t, auch der Nachschub an Kriegsgerä­t brauche Zeit. Die Logistik war einer der Schwachpun­kte des russischen Militärs. Zugleich aber sehen Nachrichte­ndienste kaum Anzeichen, dass die Ukraine aktuell in der Lage wäre, russische Truppen auf breiter Front aus den besetzten Gebieten zu vertreiben. Das deckt sich mit der Äußerung von Us-generalsta­bs- chef Mark Milley, aus militärisc­her Sicht sei es „sehr, sehr schwierig“, in diesem Jahr die russischen Streit- kräfte aus „jedem Zentimeter“der Ukraine zu vertreiben. Das britische Verteidigu­ngsministe­rium schreibt: „Alles in allem befindet sich der Konflikt in einer Sackgasse.“Eine eingefrore­ne Front wäre das größte Sicherheit­srisiko für die Ukraine. Denn dann würde auch das Interes- se des Westens nachlassen. Und da- mit auch die Waffenlief­erungen.

Dass Russland eine große Offensi- ve vorbereite­t, halten Fachleute für wahrschein­lich. Ein Blick geht nach Belarus. Die autoritäre Regierung in Minsk ist mit Putin verbündet. Aktu- ell sind dort 10.000, vielleicht schon 15.000 russische Soldaten statio- niert. Für einen Angriff in Richtung Kiew ist das zu wenig. Zugleich baut Putin seine Truppen in Belarus offenbar weiter auf. Denkbar: Der Angriff aus der Luft auf die Westukrain­e, dort, wo der Westen die Militärgüt­er aus Polen in Richtung Ostukraine transporti­ert. Auch weitere Angriffe mit Raketen und Drohnen aus Belarus sind denkbar. Bis Kiew sind es von der Grenze nur 100 Kilo- meter Luftlinie.

 ?? AFP / GETTY IMAGES ?? Ukrainisch­e Soldaten feuern im Donbass auf russische Stellungen. Die Verteidigu­ngsfähigke­it der Streitkräf­te Kiews scheint zu schwinden.
AFP / GETTY IMAGES Ukrainisch­e Soldaten feuern im Donbass auf russische Stellungen. Die Verteidigu­ngsfähigke­it der Streitkräf­te Kiews scheint zu schwinden.

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