Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Erdogan zieht Wahlen vor – Kritiker vermuten Kalkül
Der türkische Präsident könnte von Maßnahmen gegen die Inflation profitieren. Seine Wiederwahl ist ungewiss
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will die im Juni geplanten Präsidentschaftsund Parlamentswahlen um rund einen Monat auf den 14. Mai vorziehen. Er werde dafür seine Befugnis als Präsident nutzen und die Wahl am 10. März ausrufen, kündigte er am Sonntagabend bei einem Treffen mit jungen Wählern im westtürkischen Bursa an. Die Wahlen gelten als Bewährungsprobe für Erdogan, der seit 20 Jahren an der Macht ist.
Erdogan war 2003 zum Ministerpräsidenten gewählt worden, seit 2014 ist er Staatspräsident. Umfragen zufolge ist seine Wiederwahl alles andere als sicher – er gilt erstmals nicht als klarer Favorit. Der Opposition dagegen fällt es bislang schwer, einen Gegenkandidaten aufzustellen. Erdogan selbst spricht von einer „Schicksalswahl“. Vorgezogene Wahlen können in der Türkei entweder mit 60 Prozent der Abgeordnetenstimmen im Parlament oder per Dekret durch den Präsidenten angeordnet werden. Nun will Erdogan den Termin also im Alleingang durchsetzen.
Die Regierung begründet die Verlegung der Wahl unter anderem mit der Pilger- und Ferienzeit. Beobachter vermuten wahltaktische Gründe: Eines der drängendsten Probleme für die Bevölkerung ist die schlechte Wirtschaftslage und die Inflation von mehr als 60 Prozent.
Erdogan hatte in den vergangenen Wochen zahlreiche Erleichterungen
beschlossen: Der Mindestlohn wurde etwa um 55 Prozent erhöht, und er kündigte an, die Altersgrenze für rund zwei Millionen Beschäftigte aufzuheben, die damit früher in Rente gehen können. Die Opposition geht davon aus, dass Erdogan die Wahl hinter sich bringen will, bevor die Wirkung verpufft.
Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen werden am selben Tag stattfinden. Erdogan will mit seiner islamisch-konservativen AKP wieder im Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP antreten. Ein Teil der Opposition hat sich zu einem Sechserbündnis zusammengeschlossen, zu dem unter anderem die größte Oppositionspartei
CHP und die nationalkonservative Iyi-partei gehören. Ein weiteres Bündnis bildet die prokurdische Oppositionspartei HDP mit kleineren Parteien.
Das Sechser-oppositionsbündnis will seinen Kandidaten erst im Februar verkünden – wofür es viel Kritik einstecken muss. Im Rennen sind unter anderem der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu und der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Alle sind Politiker der Mitte-links-partei CHP.
Bei den vergangenen Wahlen in der Türkei 2018 waren auch rund 1,4 Millionen Türkinnen und Türken in Deutschland wahlberechtigt.