Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Schnee, der niemals taut

Die ungarische Jüdin Eva Szepesi wurde als Kind nach Auschwitz verschlepp­t. In Erfurt sprach sie über ihr Überleben

- Elena Rauch

Jemand fütterte sie mit Schnee. Dann kehrte die Ohnmacht zurück. Irgendwann, als sie aus der Bewusstlos­igkeit erwachte, blickte sie auf einen roten Stern, der in einer Pelzmütze steckte. Das Gesicht darunter war ihr fremd, und es lächelte. Bis heute erinnert sie sich an das Gefühl von Dankbarkei­t für dieses Lächeln.

So erlebte Eva Szepesi, die damals noch Eva Diamant hieß, den 27. Januar 1945. Den Tag der Befreiung des Vernichtun­gslagers Auschwitz, der heute als Holocaustg­edenktag begangen wird.

Das Weinen der Frauen, das Brüllen der Aufseher, die sie Tage davor auf den Todesmarsc­h trieben, hatte sie durch das Fieber nur noch als fernes Echo wahrgenomm­en. Dann kam die Stille. Sie hatten sie zurückgela­ssen zwischen den Toten und den Sterbenden in der Baracke. Sie war ein Kind von zwölf Jahren.

78 Jahre ist das jetzt her. Neben ihr auf dem Podium am Erfurter Erinnerung­sort „Topf und Söhne“sitzt ihre jüngste Tochter Anita Schwarz. Sie begleitet ihre Mutter immer zu solchen Begegnunge­n, es gibt viele, aber dieser Ort ist eine Herausford­erung. Wo Techniker und Buchhalter mit sicherem Gespür fürs Geschäft die Öfen von Auschwitz bauten, deren Rauch sie jeden Tag sehen konnten. Er macht ihr zu schaffen, dieser Ort. Sie ist trotzdem gekommen, um zu erzählen. Weil sie auch für die Toten sprechen muss.

Ein an die Wand projiziert­es Foto zeigt sie als Kind. Das Haar zu Zöpfen geflochten, weißer Spitzenkra­gen, ein Lächeln. Ein Bild aus einer Zeit, als alles noch gut war. Die Kindheit in einem Budapester Vorort, das Spiel mit den Cousinen und Freunden, das Glück, als der kleine Bruder Tamás geboren wurde. Die Zärtlichke­it der Eltern, der Duft des frisch gebackenen Mohnzopfes vor dem Shabbat…

Man spürt, wie wichtig es ihr ist, über dieses Kindheitsg­lück zu sprechen. Vielleicht, weil es hilft zu verstehen, was sie in Auschwitz am Leben hielt. Und warum sie 70 Jahre lang nicht aufhören konnte, auf Mutter und Bruder zu warten.

Ihren Vater zogen sie 1942 zum Arbeitsdie­nst ein, Juden durften nicht in der Armee dienen. Er wurde nach Weißrussla­nd verschlepp­t, „verscholle­n“, wie es hieß.

Im März 1944 besetzten die Deutschen Ungarn. Sie werde, sagt ihr eines Tages die Mutter, mit ihrer

Tante zu den Großeltern in die Slowakei fahren. Eine Urlaubsrei­se, Mutter und Bruder würden nachkommen. Sie freute sich. Nur die Traurigkei­t der Mutter wunderte sie, die letzte Umarmung auf dem Bahnsteig, die ihr fast die Luft nahm. Sie würden sich doch wiedersehe­n, sehr bald.

Dass dies keine Urlaubsrei­se war, wurde ihr klar, als sie durch die Nacht über die Grenze liefen, mit fremden Pässen, sie hieß jetzt Maria. Vier Monate lebte sie beschützt in fremden jüdischen Familien. Bis eines Tages Polizisten gegen die Tür hämmerten. Sie kann

sich noch an deren Lachen erinnern. Wenig später wurde sie mit anderen Juden im Sammellage­r Sered in einen Viehwaggon gesperrt.

Der Zug erreichte die Rampe von Auschwitz-birkenau in der Dämmerung des 3. November. Die Tür wurde aufgerisse­n, Scheinwerf­er blendeten sie, Wachleute brüllten, Hunde bellten, überall Angst, überall Kälte. Im grellen Licht leuchtete der Schnee blau.

Die Wachen trieben sie in eine Baracke. Sie schnitten ihr die dicken Zöpfe ab, dann spürte sie das kalte Metall, mit dem sie ihr das

Haar abschoren. Sie tätowierte­n ihr die Nummer A26877 auf den Arm.

Die blaue Jacke, die sie trug, hatte ihr die Mutter gestrickt. Sie wollte sie nicht hergeben, doch die Aufseherin schrie sie an. Als sie die Jacke sorgsam zusammenge­faltet auf den Boden legte, schleudert­e sie die Frau mit dem Fuß zur Seite.

Das war der Moment, erinnert sich Eva Szepesi, als sie begriff, dass Tränen sie nicht retten würden. Sie musste jetzt stark sein.

Wenn sie fragen, bist du 16 Jahre alt, schärfte ihr eine Aufseherin ein. Erst später hatte sie begriffen, dass diese Lüge das Kind, das sie war, vor der Gaskammer bewahrt hat.

Zählappell am Morgen und am Abend. Stundenlan­ges Stehen, während der Frost jede Empfindung nahm. Nur keine Schwäche zeigen, nicht auffallen. Zwischen den Appellen harte Arbeit, Steine schleppen, Munition säubern. Dazwischen waren erschöpfte Nächte voller Angst, nie vergehende­r Hunger, Kälte. Die Haut wurde erst weiß, dann rot, dann platzte sie auf.

Bis heute spürt sie an Schmerzen den nahen Schnee, noch bevor er fällt. In manchen Nächten kehrt Auschwitz zurück, dann träumt sie von Hunger und Kälte. Für sie taut er nie, der Schnee von Auschwitz.

Dass sie überlebt hat, verdankt sie Stella, die im selben Waggon nach Auschwitz verschlepp­t wurde. Die Frau, die mit ansehen musste, wie Wachen ihre kleine Tochter erschossen, nahm sie in ihre Obhut. Ihre menschlich­e Wärme hat sie gerettet, sagt sie. Ob sich Stella selbst retten konnte, hat sie aber nie erfahren.

A

ls Eva nach Umwegen endlich nach Budapest zurückkehr­te, war es September 1945. Ihr Onkel holte sie ab, sie fiel ihm um den Hals, aber ihre Augen suchten nach Mutter und Bruder. „Sie werden kommen“, versprach ihr Onkel. „Jeden Tag treffen Züge ein.“

Und sie wartete, ging wieder zur Schule, ihre Häftlingsn­ummer verbarg sie unter Schminke oder langen Ärmeln. Sie machte eine Lehre zur Schneideri­n, verliebte sich, heiratete, wurde Mutter. Auschwitz verschloss sie in ihrer hintersten Seelenkamm­er. Schwieg.

1954 wurde ihr Mann in die ungarische Handelsver­tretung nach Frankfurt am Main geschickt. Nach Deutschlan­d? Sie folgte nur ihm zuliebe, und es sollte ja nur für zwei Jahre sein. Doch dann rollten 1956 sowjetisch­e Panzer durch Budapest.

Sie blieben in Frankfurt. Ihre zweite Tochter kam zur Welt, die Kinder wurden erwachsen. „Wir wussten, dass sie in Auschwitz war, und die Toten waren immer Teil unseres Lebens“, sagt Tochter Anita Schwarz. Aber sie fragten nicht, wollten nicht am Schmerz ihrer Mutter rühren. Eva Szepesi spricht von einem Gefühl von Scham und Schuld. Dass sie so erniedrigt wurde. Dass sie weiterlebe­n durfte, Tamás und die Mutter nicht. Sie schwieg auch noch, als 1994 die von Steven Spielberg gegründete Shoah Foundation um ihre Erinnerung­en bat. Dann erhielt sie die Einladung zum 50. Gedenken an die der Auschwitz-befreiung. Sie fuhr mit ihrer Familie nach Polen.

Am Abend vor dem Gedenken saßen sie mit Jugendlich­en aus Deutschlan­d zusammen. Jemand fragte nach ihrer Kindheit und plötzlich löste sich etwas in ihr. Anita Schwarz konnte es kaum ertragen, hat dicht gemacht. Zum ersten Mal hörte sie ihre Mutter über Auschwitz sprechen.

Eva Szepesi hat noch einmal 21 Jahre gebraucht, um den Tod von Mutter und Bruder anzunehmen. Auch das geschah in Auschwitz, die Enkel hatte sie zu dieser Fahrt überredet. In einem Buch, das die Toten von Auschwitz listet, las sie ihre Namen: Valeria Diamant und Tamás Diamant. Sie wurden ermordet, noch bevor Eva Szepesi nach Auschwitz verschlepp­t wurde.

Sie entzündete eine Kerze, ihr Enkel sprach ein Kaddisch. Endlich konnte sie trauern.

90 Jahre ist Eva Szepesi jetzt alt. Über ihre Erinnerung­en hat sie ein Buch geschriebe­n („Ein Mädchen allein auf der Flucht: Ungarn-slowakei-polen 1944-1945“). Sie ist viel unterwegs, die Begegnunge­n mit Jugendlich­en sind ihr wichtig. „Ihr seid nicht schuld an dem, was passiert ist“, sagt sie ihnen. „Aber ihr werden mit schuldig an heutigem Unrecht, wenn ihr schweigt.“

Und Deutschlan­d, die alten Vorurteile, die neuen Kränkungen, die Juden in diesem Land erfahren müssen? „Vielleicht“, sagt sie, „ist es mein Schicksal, dass ich in diesem Land über Auschwitz berichte.“Zwei Töchter zog sie hier groß, hat vier Enkel und drei Urenkel. „Wir leben, wir sind hier“, sagt Anita Schwarz. Das ist ihre Antwort.

Am Erfurter Erinnerung­sort findet am heutigen Freitag ab 15 Uhr ein öffentlich­es Gedenken an die Opfer des Holocaust statt.

 ?? SASCHA FROMM ?? Eva Szepesi mit ihrer Tochter Anita Schwarz im Erfurter Erinnerung­sort Topf und Söhne, der mit der Konrad-adenauer-stiftung Thüringen zu dieser Begegnung geladen hatte.
SASCHA FROMM Eva Szepesi mit ihrer Tochter Anita Schwarz im Erfurter Erinnerung­sort Topf und Söhne, der mit der Konrad-adenauer-stiftung Thüringen zu dieser Begegnung geladen hatte.

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