Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Warum war der Messerstec­her noch im Land?

Der mutmaßlich­e Täter, der im Zug zwei Menschen erstach, war als Gewalttäte­r bekannt. Was sein Motiv war, ist unklar

- Thorsten Knuf, André Zand-vakili, Stephan Steinlein

Zwei junge Menschen tot, zwei Menschen lebensgefä­hrlich verletzt, drei weitere schwer – so viel steht fest nach dem Messerangr­iff im Regionalex­press von Kiel nach Hamburg. Völlig unklar ist hingegen weiterhin das Motiv des 33 Jahre alten Täters. Gegen den Mann, einen staatenlos­en Palästinen­ser, der seit seiner Einreise 2014 immer wieder auf- und straffälli­g wurde, wurde jetzt Haftbefehl erlassen. Wäre die Tat zu verhindern gewesen?

Wie war der Tatablauf?

Die 120 Fahrgäste haben es sich am Mittwochna­chmittag im RE70 nach Hamburg bequem gemacht. Gut eine Stunde dauert die Fahrt. Unter den Fahrgästen sind eine 17Jährige und ihr zwei Jahre älterer Begleiter. Ob die beiden ein Paar waren, steht noch nicht fest. Völlig unvermitte­lt, so stellt es sich heute dar, beginnt eine halbe Stunde nach Fahrtantri­tt ein Mann auf die ersten Passagiere einzustech­en. Er sucht sich seine Opfer willkürlic­h aus. In vier Waggons finden die Ermittler später Blutspuren.

Um Fahrgäste, also Zeugen, nicht zu beeinfluss­en, weigert sich die Staatsanwa­ltschaft am Donnerstag, Einzelheit­en zur Überwältig­ung des Mannes zu nennen. Aber ganz offensicht­lich haben Fahrgäste den Mann mit ihren Koffern gestoppt und ihn dabei auch verletzt. Im kleinen Bahnhof von Brokstedt, auf halber Strecke zwischen Kiel und Hamburg, überwältig­en Polizisten den Täter schließlic­h. Den kleinen Gasthof in Bahnhofsnä­he funktionie­ren die Ermittler um – hier betreuen und befragen sie die ersten 24 Zeugen.

Was ist über den Täter bekannt?

Der Angreifer heißt Ibrahim A., ist 33 Jahre alt. Der staatenlos­e Palästinen­ser war zuletzt wohnungslo­s, nachdem er etwa ein Jahr in Hamburg in Haft saß. Mehrere Millionen Palästinen­ser haben keine Staatsange­hörigkeit – eine Folge der Teilung des britischen Mandatsgeb­iets Palästina und der Gründung des Staates Israel 1948. Die ersten Jahre nach seiner Einreise am 24. November 2014 war Ibrahim A. im nordrhein-westfälisc­hen Euskirchen gemeldet, er stellte auch einen Asylantrag. Auf sein Konto gingen verschiede­ne Straftaten im Süden des Bundesland­es – wegen Bedrohung, Körperverl­etzung, Sachbeschä­digung,

Ladendiebs­tahl und sexueller Belästigun­g, heißt es.

Im Juli 2021 zieht es A. dann nach Schleswig-holstein, wo er wieder auffällig wird. Die Stadtverwa­ltung berichtet von Streitigke­iten, Belästigun­gen und einem Ladendiebs­tahl. Im November 2021 meldet Kiel dann Ibrahim A. beim Bundesamt für Migration und Flüchtling­e, kurz Bamf. Weil der Mann als „gewaltbere­it“gilt, treibt das Bamf den „Widerruf des Aufenthalt­sstatus“von A. voran. Man will den Mann loswerden. Nur: Wer will einen staatenlos­en Palästinen­ser schon aufnehmen?

Im vergangene­n Winter taucht A. in Hamburg auf. Beim Hauptbahnh­of verletzt er eine Person mit einer Eisenstang­e. Bei einer Essensausg­abe für Wohnungslo­se soll er auf eine andere Person eingestoch­en haben.

Ein Jahr verbringt A. sodann in Uhaft, wo er einen Häftling verletzt und einen Beamten angegriffe­n haben soll. Erst vor einer Woche wird A. entlassen. An diesem Mittwoch taucht Ibrahim A. in Kiel auf. Er ist auf der Suche nach einer Unterkunft.

Gab es einen terroristi­schen Hintergrun­d?

Die Staatsanwa­ltschaft glaubt nicht daran. Es gebe weder Hinweise auf einen Terrorakt noch auf eine lange geplante Tat, sagt Carsten Ohlrogge, Chef der Itzehoer Staatsanwa­ltschaft. Frank Matthiesen, Leiter der Polizeidir­ektion Itzehoe, antwortet auf die Frage, ob A. verwirrt gewirkt habe: „Ich glaube, wer mehrere Menschen schwer verletzt oder tötet, ist in der Regel zu diesem Zeitpunkt nicht ganz normal.“

Wer sind die Toten?

Das Mädchen, das Ibrahim A. durch „schwerste Stichverle­tzungen“getötet hat, war eine 17 Jahre alte Berufsschü­lerin. Sie und der 19Jährige, der auch erstochen wurde, kannten sich. Beide Opfer stammen aus Schleswig-holstein.

Warum ist Ibrahim A. noch in Deutschlan­d?

Als staatenlos­er Palästinen­ser genießt er bislang subsidiäre­n Schutz. Dieser Status wird Menschen gewährt, die kein Recht auf Asyl haben oder nicht als Flüchtling anerkannt sind, denen aber in ihrem Herkunftsl­and ernsthafte­r Schaden droht.

Die Stadt Kiel beantragte zwar 2021 beim Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) die Einleitung eines sogenannte­n Widerrufs

und Rücknahmev­erfahrens. Das Verfahren beim Bamf ist aber offenbar immer noch anhängig. Eine Anfrage unserer Redaktion bei der Nürnberger Behörde blieb bis zum Redaktions­schluss dieser Ausgabe unbeantwor­tet.

Wie reagiert die Politik?

Schleswig-holsteins Ministerpr­äsident Daniel Günther sprach von einer schrecklic­hen und sinnlosen Tat. „Schleswig-holstein trauert“, sagte Günther. Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) kam zusammen mit Günther am Donnerstag­nachmittag zum Bahnhof Brokstedt. Sie legten weiße Rosen nieder. Der Landtag in Kiel gedachte am Donnerstag­morgen der Opfer, das Innenminis­terium hat Trauerbefl­aggung für alle öffentlich­e Gebäude angeordnet.

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DPA Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) und Schleswigh­olsteins Ministerpr­äsident Daniel Günther (CDU) legten weiße Rosen nieder.
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JONAS WALZBERG / DPA Schrecklic­he Gewissheit: Am Mittwochab­end tragen Bestatter einen Leichnam aus dem Regionalzu­g.
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GREGOR FISCHER / AFP Die Spurensich­erung sucht noch am Abend der Attacke den Zug ab, in dem zwei junge Menschen ihr Leben verloren.

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