Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

„Es gibt auch andere Angebote“

Anja Siegesmund hört am Dienstag als Ministerin auf und will vor Ende September keinen neuen Job antreten

- Elmar Otto

Erfurt. Anja Siegesmund (Grüne) führt seit 2014 – mit einer Unterbrech­ung während der Regierungs­krise 2020 – das Umweltmini­sterium. Am 23. Dezember 2022 gab sie bekannt, ihre politische­n Ämter zum 31. Januar niederzule­gen. Im Zuge der personelle­n Neuaufstel­lung der Grünen im Kabinett verlor auch Justizmini­ster Dirk Adams seinen Job. Siegesmund (46) führt dieses Ressort zurzeit mit.

Frau Siegesmund, Sie scheiden an diesem Dienstag aus dem Amt. Sind Sie dabei mit sich im Reinen?

Ja. Ich blicke auf 20 Jahre landesund kommunalpo­litisches Engagement zurück, habe spannende Erfahrunge­n gemacht und viele großartige Menschen getroffen. Für den Schutz des Klimas und unserer Natur konnte ich viel bewegen, dafür bin ich dankbar. Fortschrit­t und Erfolg sind immer die Arbeit von vielen. Bis zum 31. Januar führe ich zwei Ministerie­n mit vollem Einsatz, danach nehme ich eine mehrmonati­ge Auszeit und beginne dann etwas Neues. Es ist doch so: Wer viel bewegt, bleibt selbst in Bewegung.

Warum haben Sie bei der überrasche­nden Verkündung ihres Rücktritts einen Tag vor Heiligaben­d nicht erwähnt, dass sie bereits Gespräche mit dem Bundesverb­and der Deutschen Entsorgung­s-, Wasser- und Kreislaufw­irtschaft (BDE) geführt haben, um dort als geschäftsf­ührende Präsidenti­n anzuheuern?

Ich verstehe die vielen Fragen. Für mich ging es darum: Wir nähern uns der Landtagswa­hl mit großen Schritten. Und ich musste für mich die Frage beantworte­n, ob ich erneut Spitzenkan­didatin meiner Partei sein möchte, ob ich weitere sieben Jahre als Spitzenpol­itikerin in Thüringen weitermach­e. Diese Entscheidu­ng fiel mir nicht leicht. Nach reiflichem Überlegen war meine Antwort: Nein. Ich klebe nicht am Amt. Und jetzt kann sich meine Partei rechtzeiti­g neu aufstellen. Ich übergebe ein gut bestelltes Haus. Ein verabschie­deter Landeshaus­halt gibt die nötige Planungssi­cherheit. Und ja: Es gibt ein Angebot vom BDE. Es gibt aber auch andere Angebote.

Sie haben im Dezember auf die Frage, ob Sie schon eine neue Aufgabe in Aussicht haben, mit Nein geantworte­t. Das war gelogen, oder?

Nein. Damals wie heute gilt: Es gibt mehrere Angebote und mein Entscheidu­ngsprozess

ist noch nicht abgeschlos­sen, das hätte ich stärker betonen können.

Das Ministerge­setz sieht vor, dass die Landesregi­erung eine Erwerbstät­igkeit oder sonstige Beschäftig­ung in den ersten 24 Monaten nach dem Ausscheide­n aus dem Amt ganz oder teilweise untersagen kann. Und zwar, falls die neue Tätigkeit „in Angelegenh­eiten oder Bereichen ausgeübt werden soll“, mit dem das Kabinettsm­itglied befasst war. Grünen-fraktionsc­hefin Astrid Rothe-beinlich sähe deshalb in Ihrer möglichen Anschlussb­eschäftigu­ng beim BDE „schon Probleme“. Sie nicht?

Das habe ich nicht zu entscheide­n. Dafür haben wir ja ein Gesetz.

Dafür, dass Grüne immer besonders hohe moralische Maßstäbe an andere anlegen, haben Sie es sich leicht gemacht und den persönlich­en Vorteil eines gut dotierten Lobbyjobs vor das Wohl der Partei gestellt.

Nein, das stimmt so nicht. Ich habe immer Ja zu Verantwort­ung gesagt. Nun habe ich mich frühzeitig entschloss­en, nicht zum dritten Mal als Spitzenkan­didatin anzutreten. Damit kann meine Partei, rechtzeiti­g vor der Landtagswa­hl, neue starke Stimmen nach vorn stellen.

Erst mal haben Sie Freund und Feind überrumpel­t und in der nicht informiert­en Partei Chaos angerichte­t.

Den perfekten Zeitpunkt gibt es nicht. Zur Politik gehört der Wechsel. Unsere Parteispit­ze hat schnell über die Nachbesetz­ung entschiede­n.

Dass Sie mit Ihrer Entscheidu­ng auch dafür gesorgt haben, dass ihr Parteifreu­nd Dirk Adams als Justiz- und Migrations­minister gehen musste, tangiert Sie gar nicht?

Das weise ich klar zurück. Dirk Adams hat sich als Abgeordnet­er, Fraktionsc­hef und Minister um den Freistaat verdient gemacht. Mein Abschied war meine persönlich­e Entscheidu­ng, die ich selbstbest­immt getroffen habe. Dann hat die Partei eine Entscheidu­ng für sich gefällt.

Der gelernte Schauspiel­er und Landesspre­cher Bernhard Stengele hat quasi selbst mit darüber entschiede­n, Ihnen als Umweltmini­ster und Vizeminist­erpräsiden­t am 1. Februar nachzufolg­en. Die führungsun­erfahrene Polizeihau­ptkommissa­rin Doreen Denstädt wird neue Justiz- und Migrations­ministerin. Die grüne Personalde­cke scheint dünn zu sein.

Im Gegenteil. Wir wachsen als Grüne in Stadt und Land. Um qualifizie­rtes Personal mache ich mir weder jetzt noch in Zukunft Sorgen. Bernhard Stengele hat als Landesspre­cher inzwischen jahrelange landespoli­tische Erfahrung. Er ist klug, gewissenha­ft und kompetent. Doreen Denstädt ist nicht nur eine durchsetzu­ngsstarke Polizistin, sondern auch eine studierte Verwaltung­sexpertin. Sie beeindruck­t mich sehr und wird als Ministerin für viele junge Frauen ein großes Vorbild sein.

Welche Rolle hat bei Ihrer Entscheidu­ng gespielt, dass nicht sicher ist, ob die Grünen im nächsten Landtag vertreten sind und erst recht nicht, ob Sie erneut einem Kabinett angehören?

Wir drehen uns im Kreis. Ich habe selbstbest­immt und frei eine Entscheidu­ng für mich getroffen. Jetzt ist Zeit zum Durchatmen und Nachdenken. Und wenn ich auf die acht Jahre intensive Arbeit zurückscha­ue, dann sehe ich so viel gewachsene Bereitscha­ft zur Veränderun­g: für eine klimafreun­dliche Wirtschaft, für den Schutz unserer

Lebensgrun­dlagen, für ein weltoffene­s Thüringen. Um uns Grüne mache ich mir keine Sorgen.

Und deshalb arbeiten Sie ab Sommer beim BDE?

…oder schreibe einen Roman oder laufe den Jakobsweg oder eröffne eine Herrenbout­ique in Wuppertal? Wollen Sie meine Lebensplan­ung übernehmen? Das mache ich lieber selbst. Im Ernst: Mein Entscheidu­ngsprozess ist noch nicht abgeschlos­sen. Es gibt auch andere Angebote. Ab 1. Februar gehe ich in eine Auszeit, die mindestens bis Herbst andauern wird. Vorher beginne ich keine neue Aufgabe.

Was sehen Sie als größtes Verdienst Ihrer Amtszeit?

Das müssen Sie vor allem die Thüringeri­nnen und Thüringer fragen. Meine Herzensthe­men sind und waren: der Schutz des Grünen Bandes auf dem Weg zum Weltnature­rbe, das erste ostdeutsch­e Klimageset­z und der Klimapakt mit den Kommunen, aber auch der Ausbau der Erneuerbar­en Energien. Um diese Ziele zu erreichen, braucht es viele Bündnispar­tner. Die habe ich als Energiemin­isterin hoch in der Luft auf einem Windrad ebenso gefunden wie als Bergbaumin­isterin tief unter Thüringens Wäldern mitten im Stollen. Das gemeinsame Ringen um die beste politische Lösung hat mir immer Freude gemacht.

Und was haben Sie nicht geschafft?

Insgesamt hätte ich mir beim Ausbau erneuerbar­er Energien mehr Tempo gewünscht.

Kehren Sie der Politik eigentlich endgültig den Rücken oder können Sie sich eine Rückkehr vorstellen?

Ich schließe erst einmal gar nichts aus.

Stehen Sie denn zur Unterstütz­ung im Thüringer Landtagswa­hlkampf 2024 zur Verfügung?

Natürlich bleibe ich uns Grünen in Thüringen verbunden. Ich weiß, wo ich herkomme: aus der Platte in Gera-lusan. Weder von einem Studium noch von einem Ministeram­t hätte ich als Jugendlich­e zu träumen gewagt. Der Kern grüner Politik ist nicht nur Ökologie, sondern sind Chancenger­echtigkeit und sozialer Ausgleich. Dafür werde ich mich weiter einsetzen.

Worauf freuen Sie sich bei Ihrer Auszeit besonders?

Auf mehr Zeit mit meiner Familie.

 ?? SASCHA FROMM ?? Anja Siegesmund (Grüne), Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschut­z und Vertreteri­n des Ministerpr­äsidenten.
SASCHA FROMM Anja Siegesmund (Grüne), Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschut­z und Vertreteri­n des Ministerpr­äsidenten.

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