Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

„Zuwanderun­g ist kein Allheilmit­tel“

Handwerksc­hef Jörg Dittrich über Fachkräfte­mangel – und wie Führersche­inzuschüss­e helfen könnten

- Tobias Kisling und Thorsten Knuf

Jörg Dittrich hat gerade die ersten vier Wochen als Präsident des Zentralver­bandes des Deutschen Handwerks (ZDH) hinter sich gebracht, nachdem zuvor neun Jahre lang Hans Peter Wollseifer das prägende Gesicht des Spitzenver­bandes gewesen war. Seine erste Amtszeit beginnt der 53-jährige Dachdecker­meister aus Dresden inmitten von Krisen und mit der zentralen Aufgabe, Fachkräfte fürs Handwerk zu gewinnen.

Herr Dittrich, in Deutschlan­d fehlen Hunderttau­sende Fachkräfte. Wie ist die Situation im Handwerk?

Jörg Dittrich: Das Handwerk steht bei der Fachkräfte­sicherung vor riesigen Herausford­erungen. Bei uns schlägt die demografis­che Entwicklun­g voll durch. Außerdem ziehen viele Jugendlich­e ein Hochschuls­tudium einer berufliche­n Ausbildung vor. Bereits heute fehlen im Handwerk mindestens 250.000 Fachkräfte, in der Tendenz steigend. Wir kämpfen dafür und tun das uns Mögliche, dass die Lücke in den nächsten Jahren nicht größer, sondern kleiner wird. Aber selbst dann halte ich es für wenig realistisc­h, sie komplett zu schließen.

Gibt es ein Gefälle zwischen einzelnen Regionen oder Stadt und Land?

Die Fachkräfte­lücke betrifft ganz Deutschlan­d. In Gegenden, die jetzt schon stark unter der Alterung der Gesellscha­ft und dem Wegzug junger Menschen leiden, haben es die Betriebe besonders schwer, weshalb es für Handwerksb­etriebe im Osten oft noch komplizier­ter als im Westen ist, Personal zu finden. Und auf dem Land ist es oft schwierige­r als in der Stadt.

Was lässt sich dagegen tun?

Wir müssen das Handwerk und die berufliche Ausbildung attraktive­r machen. Dafür brauchen wir auch die Unterstütz­ung der Politik. Ein Beispiel: Studenten erhalten stark subvention­ierte Semesterti­ckets für den Nahverkehr. Für Azubis gibt es vergleichb­are Angebote hingegen nicht überall. Dabei müssen auch die Lehrlinge zu ihrem Betrieb und zur Berufsschu­le kommen. In ländlichen Regionen sind viele Arbeitgebe­r bereit, ihren Azubis einen Zuschuss zum Führersche­in zu zahlen oder die Kosten komplett zu übernehmen. Das sollte der Staat fördern.

An was denken Sie?

Ausgang der Überlegung­en ist: Es gibt viele Handwerksb­etriebe, die zwingend Personal mit Führersche­in benötigen. Und es gibt viele Azubis, die sich einen Führersche­in nicht leisten können – was gerade auf dem Land eine weitere Hürde für eine Berufsausb­ildung sein kann. Betriebe, die junge Leute ausbilden, erfüllen eine Aufgabe im Sinne der Gesellscha­ft. Das Beste wäre, wenn Lehrlinge in ländlichen Regionen direkt einen Zuschuss vom Staat zu den Kosten des Führersche­ins erhielten. Der könnte etwa die Hälfte der Kosten übernehmen. Man könnte aber auch bei den Betrieben ansetzen.

Wie müsste das dann aussehen?

Greifen Betriebe ihren Azubis beim Führersche­in finanziell unter die Arme, sollte darauf bei den Azubis nicht wie bisher Lohnsteuer und Sozialvers­icherung anfallen. Bisher steht einer solchen steuer- und sozialfrei­en Bezuschuss­ung von Führersche­inkosten

die Rechtsprec­hung entgegen. Demnach führt die Kostenüber­nahme bei Pkwführers­cheinen – anders als bei Lkw-führersche­inen, wo ein überwiegen­d betrieblic­hes Interesse angenommen wird –, zu einem geldwerten Vorteil bei den Arbeitnehm­ern und Azubis. Es wird argumentie­rt, dass der Lehrling den Führersche­in im Grunde ja privat benötige. Heutzutage ist jedoch der Führersche­in und ein eigenes Auto für viele Jugendlich­e gar nicht mehr so erstrebens­wert wie noch vor einigen Jahren. Da hat sich etwas verändert, und das sollte man berücksich­tigen.

Wird Zuwanderun­g helfen, die Fachkräfte­lücke zu schließen?

Helfen ja, aber das Allheilmit­tel ist sie sicher nicht. Zuwanderun­g wird ein wichtiger Mosaikstei­n der Lösung sein. Das Handwerk ist seit jeher gut darin, Menschen aus anderen Ländern und Kulturen zu integriere­n. Zum Glück ist es heute breiter Konsens in Deutschlan­d, dass wir mehr Zuwanderun­g in den Arbeitsmar­kt brauchen. Aber um hier erfolgreic­h zu sein, ist noch einiges zu tun. Verwaltung­sverfahren, etwa bei der Visa-erteilung, müssen schneller werden. Die Ausländerb­ehörden müssen sich in echte Welcome-center wandeln. Und natürlich sind auch die Kommunen gefragt, Zuwanderer­n beim – wie ich es nenne – ‚Nestbau‘ zu helfen und dabei, sich hier zurechtzuf­inden.

Arbeitsmin­ister Heil plant, dass Arbeitnehm­er künftig in bezahlte Bildungsze­it gehen können. Sie sollen bis zu ein Jahr freigestel­lt und von der Bundesagen­tur für Arbeit unterstütz­t werden. Befürworte­n Sie das?

Weiterbild­ung ist nötig. Und allen innovative­n Betrieben ist klar, dass sie Weiterbild­ung anbieten müssen. Und das tun sie – auch in dem Wissen, sonst kein attraktive­r Arbeitgebe­r zu sein. Aber wieder als Staat per Gesetz pauschal für alle alles regeln zu wollen, halte ich für den falschen Weg.

Warum?

In Zeiten des Fachkräfte­mangels staatlich zu verordnen, dass sich noch viel mehr Menschen zeitweise aus dem Arbeitspro­zess verabschie­den, halte ich nicht für zielführen­d.

Der Minister plant, dass die Zustimmung des Arbeitgebe­rs erforderli­ch sein soll. Reicht das nicht?

Der Chef braucht dann aber ziemlich gute Gründe, um nein zu sagen. Das gibt dann wieder Ärger. Die Entscheidu­ng über Weiterbild­ungen sollte in der Hand der Betriebe bleiben.

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KRAUTHÖFER / FFS Jörg Dittrich, seit Jahresbegi­nn Präsident des Zentralver­bands des Deutschen Handwerks, in seinem Büro in Berlin.

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