Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Ausgebeutet auf dem Erdbeerfeld
Erntehelfer arbeiten viel – und verdienen oft viel zu wenig. Die Preise steigen trotzdem
Berlin. Ohne ihre Hilfe geht auf vielen Feldern nichts. Sie pflücken Erdbeeren, stechen Spargel, lesen Wein oder verpacken Obst und Gemüse. Jedes Jahr reisen rund 270.000 Frauen und Männer vor allem aus Osteuropa für mehrere Wochen nach Deutschland, um bei der Ernte zu helfen. Doch obwohl sie für die Landwirtschaft unabkömmlich sind, werden nicht alle so behandelt und bezahlt, wie es ihnen rechtlich zusteht.
Manche erhalten nicht den gesetzlichen Mindestlohn, haben intransparente Arbeitszeiten, andere sind nicht ausreichend krankenversichert, müssen ohne Schutz unter starker Hitze arbeiten oder für primitive Unterkünfte überhöhte Preise bezahlen, nennt der stellvertretende Bundesvorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen-agrarumwelt (IG BAU), Harald Schaum, die Ergebnisse einer Befragung von 4300 Erntehelfern durch die Initiative Faire Landarbeit, einem Bündnis aus Gewerkschaften und Vereinen. „Die Zustände sind teils unhaltbar. Die Saisonkräfte dürfen aber keine Beschäftigten zweiter Klasse sein.“
Die Gewerkschaften dringen vor allem auf einen besseren Gesundheitsschutz, Arbeitszeiterfassung und rechtmäßige Bezahlung der Mitarbeiter, die auch durch regelmäßige staatliche Kontrollen überprüft werden. Denn auch daran mangelt es: Zuletzt wurden 2021 weniger als ein Prozent der rund 260.000 Agrarbetriebe laut Zoll-statistik auf Einhaltung der Mindestlöhne kontrolliert. Gleichzeitig wurden bei 8,6 Prozent der Untersuchungen Verstöße gegen das Mindestlohngesetz festgestellt.
Viele Betriebe behandeln ihre Erntehelfer gut, doch es gibt auch zahlreiche „schwarze Schafe“, zu denen sowohl große als auch kleine Betriebe in allen Regionen zählen, so die Erfahrungsberichte. Umso wichtiger sei es, dass die ganze Branche durch gezielte Verbesserungen wieder einen guten Ruf bekomme, sagt Anja Piel, Vorstandsmitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
Tatsächlich gebe es durchaus Fortschritte. So ist der Mindestlohn seit Oktober auf zwölf Euro pro Stunde gestiegen, auch konnten einige unwürdige Unterkünfte geschlossen werden. Dennoch gibt es noch Missbrauch. „Faire Arbeit, menschenwürdige Unterkünfte und Lückenschluss bei Kontrollen muss deshalb oberste Priorität haben“, fordert Piel von der Bundesregierung.
Eigentlich ist die Bezahlung durch den Mindestlohn gesetzlich geregelt. Doch immer wieder zahlen Betriebe nicht den vollen Betrag an die Saisonkräfte aus. Manche Betriebe
entlohnen die Feldarbeit nach einem Akkordsystem, kritisiert Piel. Beschäftigte bekämen einen Basislohn und werden nach der Menge bezahlt, die sie geerntet haben. Dieser liegt dann nicht selten unter dem Mindestlohn. „Wir wollen aber nicht, dass Akkord dazu genutzt wird, dass Bezahlung unter zwölf Euro pro Stunde fällt – das ist Lohndumping“, so die Gewerkschafterin.
Zudem würden Überstunden oft nicht erfasst. „Eine objektive, verlässliche Zeiterfassung ist deshalb unverzichtbar“, so Piel. „Wenn Arbeitszeit nicht erfasst wird, können Zoll und Arbeitsschutzbehörden nicht kontrollieren, ob Rechte von Beschäftigten eingehalten werden.“
Ein weiteres Problem: Oft werden den Mitarbeitern Wuchermieten vom Lohn abgezogen. „So haben sich zwei Mitarbeiter ein winziges Zimmer geteilt und mussten dafür jeder 360 Euro im Monat bezahlen“, nennt Piel ein Beispiel. Manche Unterkünfte hätten zudem keine Gemeinschaftsküche oder die Waschräume seien „unter aller Kanone“.
Oft werde den Menschen der Lohn erst kurz vor Abreise ausbezahlt. So bliebe vielen keine Zeit, sich dagegen zu wehren oder ihre Rechte einzuklagen. Erschwerend kämen die fehlenden Sprachkenntnisse hinzu. Dass die Menschen dies trotzdem hinnähmen und oft jedes Jahr wiederkämen, liege auch daran, dass viele Saisonkräfte das Geld brauchten, um ihre Familie in der Heimat zu ernähren, sagt Piel.
Problematisch sei auch der Gesundheitsschutz. Zwar gilt seit 2022 eine gesetzliche Pflicht für Betriebe, alle Saisonkräfte bei einer Krankenversicherung anzumelden. Doch die Mitarbeiter würden meistens nur bei sogenannten Gruppenkrankenversicherungen angemeldet (PGK), die aber nicht alle Behandlungskosten übernehmen. So bleiben erkrankte Beschäftigte oft auf hohen Summen sitzen, die sie selbst bezahlen müssen. Schaum sieht hier dringenden Verbesserungsbedarf:
„Kurzfristig Beschäftigte in der Landwirtschaft müssen in Deutschland Anspruch auf den vollen Krankenversicherungsschutz haben.“
Bauernverband: Der Mindestlohn treibt die Preise in die Höhe
Die Saisonkräfte kommen vor allem aus Rumänien, aber auch aus Polen, Ungarn, Bulgarien, der Ukraine und Usbekistan. Angesichts des gestiegenen Mindestlohns geht Benjamin Luig von der Initiative Faire Landarbeit davon aus, dass viele Saisonkräfte wiederkommen werden. „Erstmals liegt der Mindestlohn in Deutschland sogar höher als in den Niederlanden.“
Doch das hat Folgen: Der Deutsche Bauernverband geht davon aus, dass der gestiegene Mindestlohn die Preise für Erdbeeren und Spargel steigen lässt. Denn die Lohnkosten machten einen erheblichen Teil der Produktionskosten aus, sagt der Generalsekretär Bernhard Krüsken unserer Redaktion: „Damit die Landwirte weiter wirtschaften können, müssen die Kosten an die Verbraucher weitergegeben werden.“Sollten sich höhere Preise nicht durchsetzen lassen, „wird die Erzeugung ins Ausland abwandern und die Importabhängigkeit weiter zunehmen.“
Die Zustände sind teils unhaltbar. Saisonkräfte dürfen aber keine Beschäftigten zweiter Klasse sein.
Harald Schaum, Vizechef der Industriegewerkschaft Bauen-agrarumwelt