Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Horrorunfall gibt Rätsel auf
Güterzug überfährt zwei Kinder, ein Junge stirbt. Eine Spurensuche im Ruhrgebiet
Es sind Stunden der Angst am Donnerstagabend in der Ruhrgebietsstadt Recklinghausen. Ein Güterzug, das ist die nackte Nachricht, soll „mehrere junge Menschen“erfasst haben. Polizei und Feuerwehr suchen auf den Gleisen, gleichzeitig suchen die Eltern unter einer Eisenbahnbrücke: Ihre Kinder sind nicht da. Als Seelsorger die Angehörigen endlich finden, bekommen alle Nachbarn auf der Straße und in den Fenstern mit, was geschehen ist: Ein zehnjähriger Junge ist tot. Sein ein Jahr jüngerer Freund ist schwerst verletzt. Eine Notoperation rettet in der Nacht zum Freitag sein Leben.
Es ist so ruhig am nächsten Morgen im Viertel, dies könnte auch ein Sonntag sein. Kaum ein Mensch auf der Straße, die Rettungswagen sind fort, die Polizeifahrzeuge, die Hundertschaften, all die Scheinwerfer und Blaulichter, die die Nacht bis lange nach Mitternacht erhellten. Die markerschütternden Schreie einer Mutter, die verzweifelten Rufe eines Vaters sind verstummt; nur denen, die sie hörten, klingen sie noch in den Ohren. Oben auf dem
Damm steht der Zug: die rote Lok der Deutschen Bahn, Nummer 143012, und hinter ihr eine Waggonreihe, 600 Meter lang.
Die Anwohner haben die gelben Wagen fast in ihren Gärten stehen, in einer langgestreckten Kurve. Zuletzt muss der Zug Autos geladen haben, ein Transportschein zu VW nach Polen klebt noch an einem der Waggons. Jetzt trägt er keine Fracht, und doch: Der Bremsweg, sagt ein Bahnsprecher, sei Hunderte Meter lang, auch wenn der Zug gar nicht schnell unterwegs war. Und Hunderte Meter, so heißt es, seien die Kinder womöglich mitgeschleift worden.
Das dramatische Unglück löst Bestürzung aus
Was genau passiert ist und wo, sagt die Polizei auch am Freitag nicht. Sie hat in der Dunkelheit mit Wärmebildkameras gesucht, lässt am Morgen erneut eine Drohne aufsteigen im starken Wind, um einen Überblick über das Gleisbett zu bekommen. Als sie am Donnerstag endlich sicher weiß, dass nicht noch mehr Kinder auf dem Bahndamm waren, dass es nicht noch mehr Opfer gibt, da ist es fast Mitternacht. Um 18.12 Uhr war der Notruf eingegangen,
der Lokführer selbst soll die 112 gewählt haben. Ihn können die Ermittler noch nicht befragen, der Mann werde „psychologisch betreut“. Die Staatsanwaltschaft Bochum lässt das Todesopfer in der kommenden Woche obduzieren, den Zug untersuchen; bis dahin werden dringend Zeugen gesucht: Wer hat die beiden Jungen gesehen, wer weiß, warum sie wo auf die erhöht liegenden Gleise kletterten?
Hier, wo Straßen nach Blumen heißen, zwischen Nelkenweg und Dahlienweg, gibt es viele Trampelpfade auf den Damm. Brombeerranken sind geteilt, Büsche sind platt getreten. Hinter dem alten Stellwerk am früheren Bahnhof Ost, gleich gegenüber dem Ortsteil, wo am Vorabend der Bestatter parkt, steht eine verfallene Hütte aus Beton, Graffiti an den Wänden, leere Flaschen und Süßigkeitentüten erzählen, was auch Anwohner sagen: Hier haben Kinder und Jugendliche aus der alten Bergbausiedlung einen Treffpunkt, „sie spielen da oben“, sagt eine Frau.
Ob auch die beiden Jungen zum Spielen dort oben waren, ob sie eine Abkürzung nehmen wollten nach Hause – das ist eine der Fragen, auf die nun Antworten gesucht werden. Es gab nicht viele Güterzüge auf der Strecke, sagen Nachbarn, vor Corona nicht einmal jeden Tag, zuletzt regelmäßiger. Möglich, dass die Kinder nicht mit einer Bahn rechneten. Oder dass sie sie nicht hörten: Eine E-lok, sagt der Bahn-sprecher, nähere sich recht leise. Dunkel war es am frühen Abend, es hat geregnet. Einen Zaun, der die Kinder abgehalten hätte, gibt es an vielen Stellen nicht. Alle Bahnanlagen einzuzäunen, sagt die DB, sei nicht möglich: Man habe bundesweit ein Streckennetz von knapp 34.000 Kilometern Länge, das auch durch bewohnte Gebiete führe. Ein Zaun also müsste so lang sein, dass er „zweimal den Äquator umspannt“.
Recklinghausen trauert. An der Grundschule, etwa 20 Gehminuten entfernt, bleiben am Freitagmorgen zwei Plätze leer.