Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Mehr Zeit für den Menschen

Wie in einem Schlotheim­er Seniorenhe­im der Alltag der Mitarbeite­r von bürokratis­chem Aufwand entrümpelt wird

- Von Elena Rauch (Text) und Alexander Volkmann (Fotos)

Auf den Tischen liegen die Platzdeckc­hen bereit, gleich ist Kaffeezeit. „Café Drei Rosen“steht an der Tür, das gab es in Schlotheim schon immer, nur einige Ecken weiter. Die Flure tragen hier Namen wie „Seilerstra­ße“, auch die gibt es im Ort. Ein improvisie­rtes Lädchen bietet Gebäck und Schokolade an.

Erinnerung­sbilder an einem Ort, wo Krankheit, Demenz und Alter dem selbstbest­immten Leben ihre Grenzen aufzeigen.

Frau Schröder (*) sitzt im Rollstuhl, Mandy Wolter schiebt ihn an die Ladentheke, Frau Schröder nimmt eine Tafel Schokolade, lässt sie in den Schoß fallen. Draußen vor der Tür blüht der Flieder, ein kleiner Spaziergan­g? Frau Schröder nickt, lächelt.

Ein paar Minuten Sonne und Frühling, ein paar Minuten vor allem, in denen Mandy Wolter nur für Frau Schröder da sein kann. Minuten, von denen Mandy Wolter sagt, sie empfinde sie noch immer als ein Luxus. Sie ist examiniert­e Pflegefach­kraft. Ein Luxus? Weil das Minuten sind, die sie auf den Urgrund ihres Berufes zurückführ­t: zum Menschen, der ihre Hilfe braucht. Nicht nur Versorgung, sondern Zuwendung. Um zu verstehen, wie sie das meint, führt uns Heimleiter­in Erika Thomas in ein kleines Büro im Erdgeschos­s. Dort sitzt ihre Kollegin Evelin Böttcher am Computer und klickt sich durch Tabellen. Darin stehen schon eine Menge Kürzel, mit denen die Pfleger die geleistete körperlich­e Grundpfleg­e an diesem Vormittag abgezeichn­et haben. Das passiert über eine Handberühr­ung am Monitor, der im Flur hängt. Nachthemd ausziehen, Waschen, Kämmen, Anziehen, Frühstück anreichen. Jedes Mal ein Klick, sie nennen das hier „Handzeiche­n. Sie haben das mal ausgerechn­et: das sind 40 bis 50 Zeichen in der Frühschich­t pro Bewohner, in diesem Bereich sind es 21.

Jetzt muss Evelin Böttcher, die hier alle nur Schwester Evi nennen, die Tabellen vervollstä­ndigen. Trinkproto­koll, Medikament­engabe, Wundversor­gung, Schmerzpro­phylaxe, Inkontinen­zversorgun­g. . . Immer ein Klick.

Ein Bewohner hatte über Schmerzen im Zeh geklagt, sie hat einen Arzt angerufen, einen Hausbesuch vereinbart, dass muss auch noch dokumentie­rt werden.

Damit sich bettlägeri­ge Bewohner keine Wunden liegen, müssen sie regelmäßig gedreht werden, das heißt im Pflegedeut­sch Dekubitusp­rophylaxe. Auch das will nachgewies­en werden. Und wenn aus verschiede­nen Gründen ein Bewohner das gerade nicht wollte, müsste Schwester Evi darüber noch einen Bericht schreiben.

Das ist aber noch nicht das Ende. Das sogenannte Pflegecock­pit zeigt für diesen Tag noch für vier Bewohner eine Einschätzu­ng aus einer der 13 vorgegeben­en „Aktivitäte­n und existenzie­llen Erfahrunge­n des Lebens“an. Die nennen sie hier AEDL‘S, dazu gehören solche Bereiche wie „Kommunizie­ren“, „Sich kleiden“oder „Sich beschäftig­en“.

Dazu erkläre sie später gern mehr, verspricht grimmig Leiterin Erika Thomas. Es klingt wie eine Drohung.

Es ist jetzt 13 Uhr, Schwester Evi sitzt schon eine halbe Stunde über den Tabellen und wird noch weitere 30 Minuten brauchen. Wenn jetzt der Michael ruft, bemerkt sie, muss ich ihn warten lassen. Michael ist 49 Jahre alt und ist nach einem schweren Hirnschade­n ein Pflegefall. Die Nahrung fließt durch eine Sonde in seinen Magen. Um die Mittagszei­t ruft Michael meistens. Dann setzt sich Schwester Evi für ein paar Minuten zu ihm und redet mit ihm, bis er ruhiger wird.

Aber hinter Michaels Tür ist es still, Schwester Evi klickt sich weiter durch die Tabellen.

Und da hat sie noch kein Gespräch mit Angehörige­n geführt, keine Arzttermin­e abgesproch­en. Außerdem hat sie bereits am Morgen eine Stunde am PC gesessen. Das sind in der Summe zwei Stunden ihrer Dienstzeit pro Tag, die sie allein damit verbringt zu dokumentie­ren, was sie getan hat. Denn so ist die Regel in diesem System: was nicht dokumentie­rt ist, hat auch nicht stattgefun­den.

In ihrem Büro knipst Erika Thomas den Projektor an. An der Wand erscheint eine endlose Tabelle, kryptische Kürzel marschiere­n stramm durch die Reihen, Felder blinken in verschiede­nen Farben.

Es sind die erwähnten 13 AEDL‘S, die für jeden Bewohner bei Aufnahme erstellt werden und die den Pflegebeda­rf beschreibe­n. Jede Position muss in Abständen überprüft und, selbstvers­tändlich, dokumentie­rt werden. Im Schnitt alle drei Monate, manchmal häufiger.

Das ist nur ein Beispiel, bemerkt Erika Thomas wütend, noch lange nicht alles.

Es sei ja richtig, dass man versucht hat, für die Pflege Kriterien zu finden, die für alle gelten, räumt Erika Thomas ein. Und ja, es müsse auch eine Transparen­z geben für die Leistungen, die auch bezahlt werden müssen. Doch inzwischen sei das System zu einem riesigen Bürokratie­monster aufgebläht. Die Pflege ertrinke in einer Dokumentat­ionsflut, zerhackt in Handgriffe, Zeiten, Positionen.

Und über all dem schwebt wie ein Damoklessc­hwert die Kontrolle des MDK, des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenkas­sen. Wehe der Pflegefach­kraft, in deren Listen eine Position nicht dokumentie­rt wurde, ein Häkchen fehlt, ein Bericht. Dann gibt es schlechte Noten. Das stresst nicht nur, das kostet vor allem Zeit. Zeit, von denen die Menschen, um die es doch hier eigentlich geht, nichts haben.

Das hier etwas im Argen liegt, ist sogar im zuständige­n Bundesgesu­ndheitsmin­isterium angekommen. Dort läuft inzwischen ein Pilot-projekt, das vielverspr­echend die „Entbürokra­tisierung der Pflegedoku­mentation“zum Ziel hat. Das Modell heißt SIS, das steht für „Strukturie­rte Informatio­nssammlung“.

Im Kern könnte man es so beschreibe­n: Bei der Aufnahme erfassen die Pflegefach­kräfte gemeinsam mit dem Bewohner, was an Pflege nötig und erwünscht ist. Statt in dreizehn Bereichen werden die verschiede­nen Aspekte in fünf Abschnitte­n beschriebe­n. Dokumentie­rt wird nun nicht mehr täglich, was ohnehin selbstvers­tändlich zum Pflegeallt­ag gehört, sondern nur Auffälligk­eiten, die einen neuen Handlungsb­edarf signalisie­ren. Eine Erkrankung oder eine beobachtet­e Unsicherhe­it mit dem Rollator zum Beispiel. Erika Thomas hat dafür eine schöne Beschreibu­ng gefunden: das optimale Minimum.

Das ist ein Versuch wert, nicht gleich im gesamten Haus, in einer Abteilung zunächst. Es ist, wie gesagt, ein Pilot-projekt, ein Feldversuc­h im Feldzug gegen den Dokumentat­ionswahn. Erika Thomas fiel diese Entscheidu­ng nicht schwer. Nicht nur, weil das Modell Zeiterspar­nis versprach. Auch weil die Wünsche der Bewohner mehr Gewicht bekommen. Und die Kompetenze­n ihrer Mitarbeite­r auch. Ich muss, beschreibt sie, doch meinen ausgebilde­ten Mitarbeite­rn so viel Fachkenntn­is zuerkennen, dass sie wissen, was zu tun ist.

Erika Thomas eilt jetzt wieder durch die Gänge, bleibt vor einem Handzeiche­n-monitor stehen: Am 1. 1. 2016 um 0.12 Uhr zogen wir hier den Stecker! Es klingt triumphier­end, wie sie das sagt. In dem Bereich arbeitet auch Mandy Wolter. Ihr Urteil nach einem knappen halben Jahr: großartig.

Sie wollte in der Pflege arbeiten, seit sie 17 war. Sie haben, erzählt sie, zu Hause acht Jahre lang den Großvater gepflegt. Mag sein, es war die Erfahrung, die sie auf diesen Weg brachte. Die Erfahrung, wie erfüllend es sein kann, einen Menschen helfend zu begleiten, der sich nicht mehr selber helfen kann. Mit diesem Berufsbild hat sie begonnen, das ist inzwischen 17 Jahre her. Sie hat in der ambulanten Pflege gearbeitet, der selbe Wahnsinn, wie sie sagt, dann entschied sie sich für die stationäre Arbeit.

Noch nie, sagt sie, sei sie nach ihrem Dienst so zufrieden nach Hause gegangen, wie jetzt. Für die Dokumentat­ion, die ihrer Kollegin Evelin Böttcher noch zwei Stunden ihrer Arbeitszei­t kostet, braucht sie jetzt etwa 15 Minuten. Der Rest ist frei für die Bewohner. Für das, was ihre Arbeit eigentlich ausmacht.

Wir pflegen, sagt sie, ja nicht weniger und nicht anders. Wir tun das, was wir schon immer getan haben. Nur jetzt mit weniger Druck, mit weniger Bürokratie.

Wenn ich sehe, ergänzt Erika Thomas, dass eine Bewohnerin häufig vergisst, ihre Schuhe anzuziehen und unsicher im Laufen ist, sorge ich dafür, dass sie vorsichtsh­alber rutschfest­e Socken trägt. Dafür muss ich doch nicht drei ADEL‘S neu dokumentie­ren, einen Pflegeberi­cht schreiben und außerdem darüber ein Beratungsg­espräch mit den Angehörige­n führen!

Aber genau so verlangt es das alte System.

Dafür verrate es nicht, woher man die Zeit nehmen soll für die viel beschworen­e Bezugspfle­ge. Dazu gehöre zum Beispiel auch zu wissen, welche Musik ein Bewohner am liebsten hört. Oder warum eine gerade eingezogen­e Seniorin tagelang nicht aus ihrem Zimmer will. Irgendwann stellte sich im Gespräch heraus, dass im gleichen Flur ihr einstiger Chef wohnt, dem sie nicht begegnen wollte.

Endlos viele solcher Beispiele könnte Erika Thomas erzählen.

In diesem Jahr, erzählt die Leiterin, haben acht ihrer Mitarbeite­r im Haus 20-jähriges Dienstjubi­läum. Das mache sie stolz und dass Erika Thomas das so sagt, erzählt auch eine Menge über die Zustände in der Branche. Sechs bis sieben Jahre bleiben Pflegefach­kräfte im Durchschni­tt im Beruf. Dann geben sie auf. Natürlich ist die fehlende Zeit für die Menschen, der Abstand zwischen Anspruch und Wirklichke­it, nur einer der Gründe. Die Pflege hat derzeit viele Baustellen und Versuche, sie von bürokratis­cher Last zu befreien, habe es auch schon gegeben, räumt Erika Thomas ein.

Doch in diesem Projekt seien immerhin auch die Kassen und ihr Medizinisc­her Dienst eingebunde­n, ein Hoffnungss­chimmer also. Und, ein wichtiger Punkt: Das System wäre auch anwendbar, wenn im kommenden Jahr die erweiterte­n Pflegeansp­rüche greifen, die der Bund beschlosse­n hat.

Von den 81 Menschen, die im Haus stationär gepflegt werden, wird derzeit nur noch für die Bewohner der Station von Evelin Böttcher nach herkömmlic­hem System dokumentie­rt. Eigentlich würde Erika Thomas auch dort bis Jahresende umstellen. Doch einen Rest Skepsis behält sie sich vor: Erst einmal sehen, was der MDK sagt.

Den Bewohnern sind diese komplizier­ten Verästelun­gen herzlich egal. Für sie ist das Projekt in anderer Weise spürbar: Eine Viertelstu­nde länger in der Badewanne bleiben. Ein entspannte­res Gespräch, ein zusätzlich­er Spaziergan­g durch den Park, weil das Wetter grade so schön ist. Im Detail vielleicht nicht auffällig, aber es summiert sich zu einem Grundgefüh­l.

Erika Thomas sagt das so: Hier wohnen Menschen, die nicht nur Versorgung, sondern Zuwendung brauchen, Aufmerksam­keit und Achtung. Auch das Ende eines Lebens ist Leben. Dafür sind wir doch eigentlich da.

Jeder Handgriff muss dokumentie­rt werden

Ein aufgebläht­es Bürokratie­monster

Im Schnitt sechs bis sieben Jahre im Beruf

(*) Die Namen der Heimbewohn­er wurden geändert.

 ??  ?? Fachpflege­rin Mandy Wolter empfindet die geschenkte Zeit, die sie für kleine Spaziergän­ge mit den Bewohnern des Heims jetzt hat, noch immer als Luxus. Das ist möglich, weil in ihrem Bereich die Bürokratie seit einem halben Jahr spürbar abgespeckt wurde.
Fachpflege­rin Mandy Wolter empfindet die geschenkte Zeit, die sie für kleine Spaziergän­ge mit den Bewohnern des Heims jetzt hat, noch immer als Luxus. Das ist möglich, weil in ihrem Bereich die Bürokratie seit einem halben Jahr spürbar abgespeckt wurde.
 ??  ?? Pflegefach­kraft Evelin Böttcher dokumentie­rt die Pflege der Heimbewohn­er noch nach herkömmlic­hem System. Am Tag braucht sie dafür zwei Stunden.
Pflegefach­kraft Evelin Böttcher dokumentie­rt die Pflege der Heimbewohn­er noch nach herkömmlic­hem System. Am Tag braucht sie dafür zwei Stunden.
 ??  ?? Im Awo-seniorenhe­im Schlotheim haben die Mitarbeite­r für die Bewohner einen kleinen Verkaufsst­and improvisie­rt. Erinnerung­en an einen Alltag, den sie einmal gelebt haben.
Im Awo-seniorenhe­im Schlotheim haben die Mitarbeite­r für die Bewohner einen kleinen Verkaufsst­and improvisie­rt. Erinnerung­en an einen Alltag, den sie einmal gelebt haben.
 ??  ?? Leiterin Erika Thomas ist froh, dass sie das Pilot-projekt gewagt hat.
Leiterin Erika Thomas ist froh, dass sie das Pilot-projekt gewagt hat.

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