Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Mehr Zeit für den Menschen
Wie in einem Schlotheimer Seniorenheim der Alltag der Mitarbeiter von bürokratischem Aufwand entrümpelt wird
Auf den Tischen liegen die Platzdeckchen bereit, gleich ist Kaffeezeit. „Café Drei Rosen“steht an der Tür, das gab es in Schlotheim schon immer, nur einige Ecken weiter. Die Flure tragen hier Namen wie „Seilerstraße“, auch die gibt es im Ort. Ein improvisiertes Lädchen bietet Gebäck und Schokolade an.
Erinnerungsbilder an einem Ort, wo Krankheit, Demenz und Alter dem selbstbestimmten Leben ihre Grenzen aufzeigen.
Frau Schröder (*) sitzt im Rollstuhl, Mandy Wolter schiebt ihn an die Ladentheke, Frau Schröder nimmt eine Tafel Schokolade, lässt sie in den Schoß fallen. Draußen vor der Tür blüht der Flieder, ein kleiner Spaziergang? Frau Schröder nickt, lächelt.
Ein paar Minuten Sonne und Frühling, ein paar Minuten vor allem, in denen Mandy Wolter nur für Frau Schröder da sein kann. Minuten, von denen Mandy Wolter sagt, sie empfinde sie noch immer als ein Luxus. Sie ist examinierte Pflegefachkraft. Ein Luxus? Weil das Minuten sind, die sie auf den Urgrund ihres Berufes zurückführt: zum Menschen, der ihre Hilfe braucht. Nicht nur Versorgung, sondern Zuwendung. Um zu verstehen, wie sie das meint, führt uns Heimleiterin Erika Thomas in ein kleines Büro im Erdgeschoss. Dort sitzt ihre Kollegin Evelin Böttcher am Computer und klickt sich durch Tabellen. Darin stehen schon eine Menge Kürzel, mit denen die Pfleger die geleistete körperliche Grundpflege an diesem Vormittag abgezeichnet haben. Das passiert über eine Handberührung am Monitor, der im Flur hängt. Nachthemd ausziehen, Waschen, Kämmen, Anziehen, Frühstück anreichen. Jedes Mal ein Klick, sie nennen das hier „Handzeichen. Sie haben das mal ausgerechnet: das sind 40 bis 50 Zeichen in der Frühschicht pro Bewohner, in diesem Bereich sind es 21.
Jetzt muss Evelin Böttcher, die hier alle nur Schwester Evi nennen, die Tabellen vervollständigen. Trinkprotokoll, Medikamentengabe, Wundversorgung, Schmerzprophylaxe, Inkontinenzversorgung. . . Immer ein Klick.
Ein Bewohner hatte über Schmerzen im Zeh geklagt, sie hat einen Arzt angerufen, einen Hausbesuch vereinbart, dass muss auch noch dokumentiert werden.
Damit sich bettlägerige Bewohner keine Wunden liegen, müssen sie regelmäßig gedreht werden, das heißt im Pflegedeutsch Dekubitusprophylaxe. Auch das will nachgewiesen werden. Und wenn aus verschiedenen Gründen ein Bewohner das gerade nicht wollte, müsste Schwester Evi darüber noch einen Bericht schreiben.
Das ist aber noch nicht das Ende. Das sogenannte Pflegecockpit zeigt für diesen Tag noch für vier Bewohner eine Einschätzung aus einer der 13 vorgegebenen „Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens“an. Die nennen sie hier AEDL‘S, dazu gehören solche Bereiche wie „Kommunizieren“, „Sich kleiden“oder „Sich beschäftigen“.
Dazu erkläre sie später gern mehr, verspricht grimmig Leiterin Erika Thomas. Es klingt wie eine Drohung.
Es ist jetzt 13 Uhr, Schwester Evi sitzt schon eine halbe Stunde über den Tabellen und wird noch weitere 30 Minuten brauchen. Wenn jetzt der Michael ruft, bemerkt sie, muss ich ihn warten lassen. Michael ist 49 Jahre alt und ist nach einem schweren Hirnschaden ein Pflegefall. Die Nahrung fließt durch eine Sonde in seinen Magen. Um die Mittagszeit ruft Michael meistens. Dann setzt sich Schwester Evi für ein paar Minuten zu ihm und redet mit ihm, bis er ruhiger wird.
Aber hinter Michaels Tür ist es still, Schwester Evi klickt sich weiter durch die Tabellen.
Und da hat sie noch kein Gespräch mit Angehörigen geführt, keine Arzttermine abgesprochen. Außerdem hat sie bereits am Morgen eine Stunde am PC gesessen. Das sind in der Summe zwei Stunden ihrer Dienstzeit pro Tag, die sie allein damit verbringt zu dokumentieren, was sie getan hat. Denn so ist die Regel in diesem System: was nicht dokumentiert ist, hat auch nicht stattgefunden.
In ihrem Büro knipst Erika Thomas den Projektor an. An der Wand erscheint eine endlose Tabelle, kryptische Kürzel marschieren stramm durch die Reihen, Felder blinken in verschiedenen Farben.
Es sind die erwähnten 13 AEDL‘S, die für jeden Bewohner bei Aufnahme erstellt werden und die den Pflegebedarf beschreiben. Jede Position muss in Abständen überprüft und, selbstverständlich, dokumentiert werden. Im Schnitt alle drei Monate, manchmal häufiger.
Das ist nur ein Beispiel, bemerkt Erika Thomas wütend, noch lange nicht alles.
Es sei ja richtig, dass man versucht hat, für die Pflege Kriterien zu finden, die für alle gelten, räumt Erika Thomas ein. Und ja, es müsse auch eine Transparenz geben für die Leistungen, die auch bezahlt werden müssen. Doch inzwischen sei das System zu einem riesigen Bürokratiemonster aufgebläht. Die Pflege ertrinke in einer Dokumentationsflut, zerhackt in Handgriffe, Zeiten, Positionen.
Und über all dem schwebt wie ein Damoklesschwert die Kontrolle des MDK, des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen. Wehe der Pflegefachkraft, in deren Listen eine Position nicht dokumentiert wurde, ein Häkchen fehlt, ein Bericht. Dann gibt es schlechte Noten. Das stresst nicht nur, das kostet vor allem Zeit. Zeit, von denen die Menschen, um die es doch hier eigentlich geht, nichts haben.
Das hier etwas im Argen liegt, ist sogar im zuständigen Bundesgesundheitsministerium angekommen. Dort läuft inzwischen ein Pilot-projekt, das vielversprechend die „Entbürokratisierung der Pflegedokumentation“zum Ziel hat. Das Modell heißt SIS, das steht für „Strukturierte Informationssammlung“.
Im Kern könnte man es so beschreiben: Bei der Aufnahme erfassen die Pflegefachkräfte gemeinsam mit dem Bewohner, was an Pflege nötig und erwünscht ist. Statt in dreizehn Bereichen werden die verschiedenen Aspekte in fünf Abschnitten beschrieben. Dokumentiert wird nun nicht mehr täglich, was ohnehin selbstverständlich zum Pflegealltag gehört, sondern nur Auffälligkeiten, die einen neuen Handlungsbedarf signalisieren. Eine Erkrankung oder eine beobachtete Unsicherheit mit dem Rollator zum Beispiel. Erika Thomas hat dafür eine schöne Beschreibung gefunden: das optimale Minimum.
Das ist ein Versuch wert, nicht gleich im gesamten Haus, in einer Abteilung zunächst. Es ist, wie gesagt, ein Pilot-projekt, ein Feldversuch im Feldzug gegen den Dokumentationswahn. Erika Thomas fiel diese Entscheidung nicht schwer. Nicht nur, weil das Modell Zeitersparnis versprach. Auch weil die Wünsche der Bewohner mehr Gewicht bekommen. Und die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter auch. Ich muss, beschreibt sie, doch meinen ausgebildeten Mitarbeitern so viel Fachkenntnis zuerkennen, dass sie wissen, was zu tun ist.
Erika Thomas eilt jetzt wieder durch die Gänge, bleibt vor einem Handzeichen-monitor stehen: Am 1. 1. 2016 um 0.12 Uhr zogen wir hier den Stecker! Es klingt triumphierend, wie sie das sagt. In dem Bereich arbeitet auch Mandy Wolter. Ihr Urteil nach einem knappen halben Jahr: großartig.
Sie wollte in der Pflege arbeiten, seit sie 17 war. Sie haben, erzählt sie, zu Hause acht Jahre lang den Großvater gepflegt. Mag sein, es war die Erfahrung, die sie auf diesen Weg brachte. Die Erfahrung, wie erfüllend es sein kann, einen Menschen helfend zu begleiten, der sich nicht mehr selber helfen kann. Mit diesem Berufsbild hat sie begonnen, das ist inzwischen 17 Jahre her. Sie hat in der ambulanten Pflege gearbeitet, der selbe Wahnsinn, wie sie sagt, dann entschied sie sich für die stationäre Arbeit.
Noch nie, sagt sie, sei sie nach ihrem Dienst so zufrieden nach Hause gegangen, wie jetzt. Für die Dokumentation, die ihrer Kollegin Evelin Böttcher noch zwei Stunden ihrer Arbeitszeit kostet, braucht sie jetzt etwa 15 Minuten. Der Rest ist frei für die Bewohner. Für das, was ihre Arbeit eigentlich ausmacht.
Wir pflegen, sagt sie, ja nicht weniger und nicht anders. Wir tun das, was wir schon immer getan haben. Nur jetzt mit weniger Druck, mit weniger Bürokratie.
Wenn ich sehe, ergänzt Erika Thomas, dass eine Bewohnerin häufig vergisst, ihre Schuhe anzuziehen und unsicher im Laufen ist, sorge ich dafür, dass sie vorsichtshalber rutschfeste Socken trägt. Dafür muss ich doch nicht drei ADEL‘S neu dokumentieren, einen Pflegebericht schreiben und außerdem darüber ein Beratungsgespräch mit den Angehörigen führen!
Aber genau so verlangt es das alte System.
Dafür verrate es nicht, woher man die Zeit nehmen soll für die viel beschworene Bezugspflege. Dazu gehöre zum Beispiel auch zu wissen, welche Musik ein Bewohner am liebsten hört. Oder warum eine gerade eingezogene Seniorin tagelang nicht aus ihrem Zimmer will. Irgendwann stellte sich im Gespräch heraus, dass im gleichen Flur ihr einstiger Chef wohnt, dem sie nicht begegnen wollte.
Endlos viele solcher Beispiele könnte Erika Thomas erzählen.
In diesem Jahr, erzählt die Leiterin, haben acht ihrer Mitarbeiter im Haus 20-jähriges Dienstjubiläum. Das mache sie stolz und dass Erika Thomas das so sagt, erzählt auch eine Menge über die Zustände in der Branche. Sechs bis sieben Jahre bleiben Pflegefachkräfte im Durchschnitt im Beruf. Dann geben sie auf. Natürlich ist die fehlende Zeit für die Menschen, der Abstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit, nur einer der Gründe. Die Pflege hat derzeit viele Baustellen und Versuche, sie von bürokratischer Last zu befreien, habe es auch schon gegeben, räumt Erika Thomas ein.
Doch in diesem Projekt seien immerhin auch die Kassen und ihr Medizinischer Dienst eingebunden, ein Hoffnungsschimmer also. Und, ein wichtiger Punkt: Das System wäre auch anwendbar, wenn im kommenden Jahr die erweiterten Pflegeansprüche greifen, die der Bund beschlossen hat.
Von den 81 Menschen, die im Haus stationär gepflegt werden, wird derzeit nur noch für die Bewohner der Station von Evelin Böttcher nach herkömmlichem System dokumentiert. Eigentlich würde Erika Thomas auch dort bis Jahresende umstellen. Doch einen Rest Skepsis behält sie sich vor: Erst einmal sehen, was der MDK sagt.
Den Bewohnern sind diese komplizierten Verästelungen herzlich egal. Für sie ist das Projekt in anderer Weise spürbar: Eine Viertelstunde länger in der Badewanne bleiben. Ein entspannteres Gespräch, ein zusätzlicher Spaziergang durch den Park, weil das Wetter grade so schön ist. Im Detail vielleicht nicht auffällig, aber es summiert sich zu einem Grundgefühl.
Erika Thomas sagt das so: Hier wohnen Menschen, die nicht nur Versorgung, sondern Zuwendung brauchen, Aufmerksamkeit und Achtung. Auch das Ende eines Lebens ist Leben. Dafür sind wir doch eigentlich da.
Jeder Handgriff muss dokumentiert werden
Ein aufgeblähtes Bürokratiemonster
Im Schnitt sechs bis sieben Jahre im Beruf
(*) Die Namen der Heimbewohner wurden geändert.