Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Die Erfahrung des Langstreckenläufers
Und warum 20 Trainingskilometer pro Woche doch zu wenig für einen Marathon-endspurt sind
Schmiedefeld. Wie jedes Jahr in Neuhaus – nur dieses Mal scheint so richtig die Sonne. Kurz vor neun fliegen die Hände hoch, Herbert Roths Nachfolger oben auf der Bühne stoßen ins Blech, blasen das aus ihren Instrumenten heraus, auf das alle Läufer warten: erst das Rennsteiglied und dann den Schneewalzer. Und wieder gibt es all die verdutzten Blicke bei den Neulingen, die nicht so ganz verstehen, warum man jetzt zu Schunkeln hat. Der Hubschrauber kreist, der Startschuss fällt, die Läufer-masse presst sich durch das enge Tor mit den vielen Zeitmessern und hat gleich einen kleinen Berg hoch aus dem Ort hinaus zu absolvieren.
Hernach weiß der Läufer meist, wie er so drauf ist. Denn einen Marathon, den rennt man nicht aus dem Stand heraus.
Ach ja, das schlechte Gewissen. Der Steffen neben mir im morgendlichen Bus zum Rennsteig hoch erzählte von seinem Training – er läuft täglich so seine 20 km. Das wiederum ist fast exakt mein Wochenpensum, was man dann eben schon nach den ersten drei Kilometern merkt, die trotzdem noch locker von den Waden gehen.
Links vor mir zieht die Eva ihre Spur – alle Namen stehen auf der Startnummer. Sie hat sich mit Filzstift das grüne R des Rennsteigs auf ihre durchaus ansehnlichen Waden malen lassen. So halten es heutzutage viele – von Blümchen bis hin zum Namen der Liebsten. Überhaupt fallen wieder einmal so manche Neuerungen beim Rennsteiglauf Nr. 44 auf, der eigentlich ein digitaler ist: überall Technik. So knarrt plötzlich eine elektronische Geisterstimme neben mir: „Sie haben Kilometer fünf erreicht. Ihr Tempo liegt im Limit, als nächstes biegt ein schmaler Waldweg nach links ein“. Tim hat sich so eine Art Navigationssystem für Läufer um den Arm geflanscht, das ihn auf der gesamten Strecke führt. Doch will ich das, wo doch das Maiengrün so schön duftet? Diese ganzen Mp3-player, Ohrhörer, Herzfrequenzmesser und Schrittzähler – müssen die wirklich sein? Doch ihr Digitalen wartet nur: Auch ihr müsst bald ebenso leiden, wie ich Analoger. Denn noch wird geschwatzt und mal schnell mit dem Handy telefoniert – der erste steile Berg steht spätestens in Limbach an. Nur wer richtig fit oder ein Neuling ist, läuft hier durch. Alte Hasen aber gehen in den schnellen Wanderschritt über, um Kreislauf und Gelenke zu schonen – und ziehen oben an den „Ausgepumpten“vorbei.
Vieles ist trotz aller Rennsteigmoderne nicht ausgestorben. Der Haferschleim nach angeblichem Geheimrezept oder die nette Oma, die Fettbrot reicht. Es spielt der Leierkastenmann, blasen die Ilmenauer Guggenmusiker dem Lauf-tausendfüßler einen lockeren Marsch.
Und dann passiert es wie jedes Jahr: Kurz vor Neustadt – so bei Kilometer 25 – beginnt die sprichwörtliche Einsamkeit des Langstreckenläufers. In Neustadt dann geht es zu wie in Napoleons Feldlazarett. Viele Knie sind zerbeult, manch Muskel schreit im Krampf. Vergessen sind plötzlich Läufer-navi und Computerstimme – Schmerz schert sich nicht um Technik, nur Rot-kreuz-helfer und Masseure lindern. Weiter, weiter, immer weiter. Der nächste Hammer-berg, danach im Geröll den Hang hinunter und wieder hoch bis Frauenwald, wo fünf Kilometer vor dem Ziel das berühmte Läuferbier gereicht wird. Das war zu Ddr-zeiten sportmedizinisch umstritten, gehört heute aber zur guten Tradition. Wie keucht der Ralf aus Bayern neben mir zum Bier: „Das gibt’s nur beim Lauf in Thüringen – ein Grund, hierher zu kommen.“
Gemeinsam gehen wir dann auch die letzten Kilometer an. Nur kurz vor dem Ziel, da gibt er am Anstieg vor dem Sportplatz in Schmiedefeld nochmal richtig Gas – und ich kann nicht mehr mithalten. Waren wohl doch zu wenig – die 20 Trainings-kilometer pro Woche. Und wieder einmal nehme ich mir vor: Vor dem nächsten Rennsteig wird doppelt so viel gelaufen. Das geht nun schon seit 31 Jahren so.
Dietmar Grosser (63) ist Ta-redakteur aus Erfurt und bestritt in seiner langen Karriere bereits 31 Rennsteigläufe.