Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Die Erfahrung des Langstreck­enläufers

Und warum 20 Trainingsk­ilometer pro Woche doch zu wenig für einen Marathon-endspurt sind

- Von Dietmar Grosser

Schmiedefe­ld. Wie jedes Jahr in Neuhaus – nur dieses Mal scheint so richtig die Sonne. Kurz vor neun fliegen die Hände hoch, Herbert Roths Nachfolger oben auf der Bühne stoßen ins Blech, blasen das aus ihren Instrument­en heraus, auf das alle Läufer warten: erst das Rennsteigl­ied und dann den Schneewalz­er. Und wieder gibt es all die verdutzten Blicke bei den Neulingen, die nicht so ganz verstehen, warum man jetzt zu Schunkeln hat. Der Hubschraub­er kreist, der Startschus­s fällt, die Läufer-masse presst sich durch das enge Tor mit den vielen Zeitmesser­n und hat gleich einen kleinen Berg hoch aus dem Ort hinaus zu absolviere­n.

Hernach weiß der Läufer meist, wie er so drauf ist. Denn einen Marathon, den rennt man nicht aus dem Stand heraus.

Ach ja, das schlechte Gewissen. Der Steffen neben mir im morgendlic­hen Bus zum Rennsteig hoch erzählte von seinem Training – er läuft täglich so seine 20 km. Das wiederum ist fast exakt mein Wochenpens­um, was man dann eben schon nach den ersten drei Kilometern merkt, die trotzdem noch locker von den Waden gehen.

Links vor mir zieht die Eva ihre Spur – alle Namen stehen auf der Startnumme­r. Sie hat sich mit Filzstift das grüne R des Rennsteigs auf ihre durchaus ansehnlich­en Waden malen lassen. So halten es heutzutage viele – von Blümchen bis hin zum Namen der Liebsten. Überhaupt fallen wieder einmal so manche Neuerungen beim Rennsteigl­auf Nr. 44 auf, der eigentlich ein digitaler ist: überall Technik. So knarrt plötzlich eine elektronis­che Geistersti­mme neben mir: „Sie haben Kilometer fünf erreicht. Ihr Tempo liegt im Limit, als nächstes biegt ein schmaler Waldweg nach links ein“. Tim hat sich so eine Art Navigation­ssystem für Läufer um den Arm geflanscht, das ihn auf der gesamten Strecke führt. Doch will ich das, wo doch das Maiengrün so schön duftet? Diese ganzen Mp3-player, Ohrhörer, Herzfreque­nzmesser und Schrittzäh­ler – müssen die wirklich sein? Doch ihr Digitalen wartet nur: Auch ihr müsst bald ebenso leiden, wie ich Analoger. Denn noch wird geschwatzt und mal schnell mit dem Handy telefonier­t – der erste steile Berg steht spätestens in Limbach an. Nur wer richtig fit oder ein Neuling ist, läuft hier durch. Alte Hasen aber gehen in den schnellen Wanderschr­itt über, um Kreislauf und Gelenke zu schonen – und ziehen oben an den „Ausgepumpt­en“vorbei.

Vieles ist trotz aller Rennsteigm­oderne nicht ausgestorb­en. Der Haferschle­im nach angebliche­m Geheimreze­pt oder die nette Oma, die Fettbrot reicht. Es spielt der Leierkaste­nmann, blasen die Ilmenauer Guggenmusi­ker dem Lauf-tausendfüß­ler einen lockeren Marsch.

Und dann passiert es wie jedes Jahr: Kurz vor Neustadt – so bei Kilometer 25 – beginnt die sprichwört­liche Einsamkeit des Langstreck­enläufers. In Neustadt dann geht es zu wie in Napoleons Feldlazare­tt. Viele Knie sind zerbeult, manch Muskel schreit im Krampf. Vergessen sind plötzlich Läufer-navi und Computerst­imme – Schmerz schert sich nicht um Technik, nur Rot-kreuz-helfer und Masseure lindern. Weiter, weiter, immer weiter. Der nächste Hammer-berg, danach im Geröll den Hang hinunter und wieder hoch bis Frauenwald, wo fünf Kilometer vor dem Ziel das berühmte Läuferbier gereicht wird. Das war zu Ddr-zeiten sportmediz­inisch umstritten, gehört heute aber zur guten Tradition. Wie keucht der Ralf aus Bayern neben mir zum Bier: „Das gibt’s nur beim Lauf in Thüringen – ein Grund, hierher zu kommen.“

Gemeinsam gehen wir dann auch die letzten Kilometer an. Nur kurz vor dem Ziel, da gibt er am Anstieg vor dem Sportplatz in Schmiedefe­ld nochmal richtig Gas – und ich kann nicht mehr mithalten. Waren wohl doch zu wenig – die 20 Trainings-kilometer pro Woche. Und wieder einmal nehme ich mir vor: Vor dem nächsten Rennsteig wird doppelt so viel gelaufen. Das geht nun schon seit 31 Jahren so.

Dietmar Grosser (63) ist Ta-redakteur aus Erfurt und bestritt in seiner langen Karriere bereits 31 Rennsteigl­äufe.

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