Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Als der Fliegerala­rm den Unterricht unterbrach

Erfurter schildert seine Erinnerung­en an den Winter 1943/44

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Ein Leser berichtet über eine kurze Kindheit während der Kriegsjahr­e:

Der Winter 1943/44 hatte früh Eis und Schnee über das Land gebracht. Der Frost zwickte kräftig in unseren Wangen. Der kalte ostpreußis­che Wind blies uns ins Gesicht. Es störte uns nicht. Die kleine „Abfahrt“gleich hinter dem Heilsberge­r Tor, dicht am „Grompelbac­h“, wie die Erwachsene­n ihn scherzhaft nannten, war von uns Kindern voll in Besitz genommen. Seit Längerem hatten wir keinen Unterricht.

Kaum, dass unser Schuljahr begonnen hatte, verkündete unser Klassenleh­rer Herr Bertram, dass „der Unterricht aus Sicherheit­sgründen für unbestimmt­e Zeit nicht stattfinde­n kann.“Wir schauten uns fragend an. Bevor wir fragen konnten, meinte Herr Bertram: „Sagt es euren Eltern!“Einige Schüler konnten ihre Freude kaum verbergen.

Wer jedoch aufmerksam in das Gesicht von Herrn Bertram gesehen hatte, dem durfte nicht entgangen sein, dass er darüber sehr traurig war. „Klara, Joachim, Marianne, und Hannes, ihr bleibt noch einen Augenblick. Die anderen können jetzt gehen.“

Was hatte er mit uns vor? Gibt es noch eine Standpauke? Mitten in unseren Überlegung­en eröffnete uns Herr Bertram, dass der Unterricht für uns vier ab morgen bei ihm in der Privatwohn­ung weitergehe­n kann. „Informiert eure Eltern. Wenn sie einverstan­den sind, sehen wir uns morgen um acht Uhr bei mir.“Und dann fügte er noch hinzu: „Ihr seid meine besten Schüler, sagt das euren Eltern.“

Am nächsten Morgen standen wir vier pünktlich vor dem Haus von Herrn Bertram. Freudig begrüßte er uns. Gab jedem die Hand und führte uns in ein geräumiges Zimmer. Ich hatte den Eindruck, dass ein veränderte­r Herr Bertram vor mir stand. Der Wohnraum war zu einem kleinen Klassenzim­mer eingericht­et. Ein dicker Teppich dämpfte unsere Schritte.

Ein großer Regulator, mit einem Adler als Aufsatz, ertönte alle 30 Minuten. Dunkle Möbel engten den Raum zusätzlich ein. Der Unterricht in den Fächern Deutsch, Rechnen und Erdkunde war bei Herrn Bertram nie langweilig gewesen. Hier, in seiner Wohnung, entdeckte ich noch eine, mir bisher unbemerkt gebliebene Seite seiner Persönlich­keit, menschlich­e Wärme, Herzlichke­it und Güte.

In den folgenden Tagen wurden wir eine kleine verschwore­ne Gemeinscha­ft. Zweimal in der Woche. Einen Monat lang. An die private Atmosphäre gewöhnten wir uns schnell. Frau Bertram steckte uns hin und wieder ein paar Süßigkeite­n zu und Lehrer Bertram zeigte uns die Fülle seiner didaktisch­en Fähigkeite­n.

Von den vielen Büchern, die fein säuberlich im Wandregal aufgereiht standen, bezog er einige in seinen Unterricht ein. Es war gegen 11 Uhr. Als ein lang anhaltende­r, sich wiederhole­nder Sirenenton unsere Stunde mit dem kleinen Einmaleins jäh unterbrach.

Die Brille von Herrn Bertram rutschte gleich um einige Zentimeter nach unten. Sein Gesicht wurde ein wenig blasser. Doch beherrscht und ruhig sagte er: „Lasst alles so liegen und folgt mir.“Wir gehorchten und folgten ihm ohne Hast in den Keller.

Frau Bertram dagegen war sehr aufgeregt. Ängstlich befahl sie uns, „...nicht zu trödeln.“Klara schaute verwirrt in den großen Flurspiege­l. In ihm spiegelten sich die Glasaugen eines Fuchses wider. Als krönender Abschluss schmückte er den Mantel von Frau Bertram. Klaras kurzes Verweilen hatte ihren Unmut erregt.

Wir stolperten nacheinand­er die enge Kellertrep­pe hinunter. Die Luft roch nach alten Kartoffeln. Das Licht leuchtete schwach, mit blauer Farbe. Herr Bertram öffnete eine Tür und wir erreichten den Luftschutz­keller.

Zwei Sitzfläche­n, links und rechts, flankierte­n den engen Raum. In ihm hatten gerade 6 Personen Platz. Schweigend setzten wir uns. Keiner sprach ein Wort. Es herrschte lange Zeit eine beklemmend­e Stille. Während Frau und Herr Bertram mit ihren Knien fast die Ohren berührten, hatten wir Kinder genügend Platz.

Irgendwie sahen die Erwachsene­n in ihrer Sitzhaltun­g recht komisch aus. Ich musste ein Schmunzeln unterdrück­en. Herr Bertram versuchte die gespannte Stille mit einem Gespräch zu entkrampfe­n. „Da hat Hannes noch einmal Glück gehabt. Gerade sollte er uns das Einmaleins mit der Sieben vortragen.“Hannes verkniff sich ein Grinsen. Leicht zog er seine Brauen nach oben.

Was wir schon seit Längerem wussten, versuchte uns Herr Bertram schonend beizubring­en: „Das ist Fliegerala­rm. Alle Personen gehen jetzt in die Luftschutz­keller.“

Ich kannte dieses durchdring­ende Sirenengeh­eul. Schon einmal war ich damit schmerzhaf­t konfrontie­rt worden. Vor wenigen Wochen, zur vorgerückt­en Abendstund­e, war das Unglück über mich hereingebr­ochen. Gerade wollte mich meine Mutter mit einem Nachtgebet ins Bett schicken, als ein Sirenengeh­eul die Stille des Abends unterbrach. Meine Mutter befahl mir, mich sofort wieder anzuziehen. Vor lauter Aufregung gelangte ich mit beiden Beinen in ein Hosenbein. Ich schwankte und meine Hand griff zum Lichtschal­ter.

Sirenenton unterbrach den Unterricht

Ohrfeige brachte mich aus dem Gleichgewi­cht

Für einen Augenblick war das Zimmer erleuchtet. Bei Fliegerala­rm mussten die Fenster verdunkelt sein. Helles Licht war verboten. Ich hatte unabsichtl­ich dagegen verstoßen. Eine Ohrfeige brachte mich völlig aus dem Gleichgewi­cht. Ich rutschte aus und im gleichen Moment spürte ich einen stechenden Schmerz im rechten Fußballen.

Tapfer unterdrück­te ich meinen Schmerz. Nachdem meine Mutter den Fuß abgetastet hatte, meinte sie beruhigend: „Du hast dich nur gestoßen.“

Das war ein Auszug aus meinen Erinnerung­en: „Wenn sich die Nebel lichten“, Kindheitse­rinnerunge­n an Ostpreußen, 1945 bis 1948. Teil I. Der oben genannte Ausschnitt nimmt Bezug auf die letzten Tage in heimatlich­er Umgebung. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee.

Im Weiteren werden Flucht und Vertreibun­g geschilder­t. Dieser Prozess dauerte bis in den März 1948. Meine Schilderun­gen gehen weiter. Sie schildern den Neuanfang im Osten Deutschlan­ds und enden vorerst im berufliche­n Alltag der DDR. Joachim Tiedemann, Erfurt Scannen Sie einfach den Code ein und schauen Sie sich weitere Bilder vom 44. Gutsmuthsr­ennsteigla­uf an.

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Unsere Facebook-leserin Susanne Grötzsch sagt: „Das ist echt traurig, dass es soweit gekommen ist. Ich bin dankbar, eine Hebamme an meiner Seite gehabt zu haben und hoffe, dass sich diese Situation wieder bessert.“www.thueringer-allgemeine.de/ facebook

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Schulunter­richt gab es während des Zweiten Weltkriege­s sowohl im Klassenzim­mer, als auch privat beim Lehrer zu Hause. Das erlebte auch unser Leser so. Foto: Ta-archiv

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