Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Deutscher Überfall auf Sowjetunion: Kritiker vermissen Gedenkveranstaltung
Heute vor 75 Jahren begann der deutsche Vernichtungskrieg im Osten. Über das richtige Erinnern daran gibt es Streit
Berlin. Der Vorsitzende des Deutsch-russischen Forums und frühere Brandenburger Ministerpräsident, Matthias Platzeck (SPD), hat Bundesregierung und Bundestag vorgeworfen, nur unzureichend an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 75 Jahren zu erinnern. Der 22. Juni sei ein „Tag der Weltgeschichte“, schrieb Platzeck in einem Gastbeitrag für den Berliner Tagesspiegel. „Weder im Bundestag noch in Form von Veranstaltungen der Bundesregierung“werde jedoch heute der Opfer gedacht.
Mit diesem Verhalten vergebe Deutschland „eine historische Chance für unser Verhältnis zu unserem größten Nachbarn in Osteuropa“– vor allem „angesichts der schweren Spannungen“, so Platzeck.
Nazideutschland hatte am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen, nachdem die Diktatoren Hitler und Stalin zuvor 1939 gemeinsam Polen überfallen hatten. Platzeck erinnerte daran, dass der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 27 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, davon zwei Drittel Zivilisten.
Der Bundestag debattiert heute über den Überfall Hitlerdeutschlands – eine offizielle Gedenkstunde ist nicht angesetzt. Bundestagspräsident Norbert Lammert hält darüber hinaus eine Rede im Rahmen einer Gedenkveranstaltung in Berlin, die von unterschiedlichen Stiftungen und Einrichtungen veranstaltet wird. Die Bundesregierung hatte argumentiert, dass das Gedenken über von ihr geförderte Stiftungen und Organisationen gestaltet wird.
Historiker fordert zentralen Gedenkort
Auch Historiker bemängeln das Fehlen einer herausgehobenen Gedenkveranstaltung. Der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch, fordert eine Neubewertung des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion gefordert. Das historische Ereignis mit Millionen von Toten sei bis heute eine große Leerstelle im öffentlichen Gedenken der Bundesrepublik, sagte Morsch.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) eröffnete gestern zusammen mit dem russischen Botschafter Wladimir Grinin eine Freiluftausstellung über den „Vernichtungskrieg 1941–1945“am Potsdamer Platz in Berlin. Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt der Ständigen Konferenz der Leiter der Ns-gedenkorte im Berliner Raum, deren Vorsitzender Morsch ist.
Der Chef der Gedenkstätte Sachsenhausen plädierte für einen Gedenkort „oder zumindest ein Gedenkzeichen“in der Mitte Berlins, um an die Opfer des Vernichtungskrieges zu erinnern. Ziel der Nationalsozialisten sei es gewesen, „viele Millionen Menschen zu töten, auszurotten, die Übrigen zu versklaven und viele weitere zu vertreiben“. So hätten die Strategen des „Generalplan Ost“vor Ausbruch des Feldzuges mit 30 Millionen Toten gerechnet. Zwischen 1941 und 1945 seien dann in der Sowjetunion „hundertfach ganze Dörfer dem Boden gleichgemacht und deren Einwohner, Kinder, Frauen und Männer, auf grausamste Weise getötet oder in den Tod getrieben worden“, sagte Morsch:
Bei der Ausstellungseröffnung in Berlin dankte Kulturstaatsministerin Grütters Russland für „die Versöhnungsbereitschaft und das Vertrauen“nach dem Krieg. Dies sei eine Voraussetzung der deutschen Wiedervereinigung gewesen. Zugleich erinnerte Grütters an die „anhaltenden blutigen Konflikte“in der Ukraine. Es sei eine Einsicht des Zweiten Weltkriegs, dass es „ohne Überwindung des Nationalismus keinen dauerhaften Frieden in Europa“gebe.
Botschafter Grinin betonte, der 22. Juni 1941 habe für die Völker der Sowjetunion eine „unvergleichliche, tragische Bedeutung“. Er würdigte die „nachhaltigen Schritte Deutschlands zu aufrichtiger Versöhnung mit Russland“. In Anspielung auf die Differenzen nannte er es „normal, dass Meinungen und Einschätzungen nicht immer übereinstimmen“. dpa/epd