Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Wenn die kleine Seele leidet
Jährlich werden in den Kinder- und Jugendpsychiatrien in Thüringen 2000 Patienten stationär behandelt – Tendenz steigend. Ein Besuch im Südharz Klinikum Nordhausen
Ein Vormittag in der Kinderund Jugendpsychiatrie des Südharzklinikums in Nordhausen. Sechs Kinder im Unterstufenalter sitzen in einer Fensternische um einen Tisch. In den Händen bewegen sie bunte Tassen. Wer sie ruhig hält, bekommt etwas zu trinken eingeschenkt. Dazu gibt es einen Pudding oder Joghurt.
Solche Momente der Besinnung sind fester Bestandteil des Alltags in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Um 7.30 Uhr sind die Kinder aufgestanden, haben sich gewaschen, gefrühstückt, ein Weilchen miteinander gespielt. Vor allem für die, die aus weniger intakten Verhältnissen stammen, sind das keine Selbstverständlichkeiten. Bevor es jetzt gleich in die Schule geht, sollen die Kleinen noch einmal zur Ruhe kommen.
Die Zahl der Kinder, die wegen psychischer Probleme intensiv behandelt werden, steigt auch in Thüringen seit Jahren kontinuierlich an. Nicht alle kommen gleich in eine Klinik. Kinder und Jugendliche werden je nach Schwere der Erkrankung ambulant, tagesklinisch oder stationär behandelt.
„Meistens wird ambulant begonnen zu diagnostizieren und zu behandeln, allerdings zeigt sich häufig, dass der individuelle und familiäre Leidensdruck zu hoch ist und deshalb eine stationäre Behandlung unumgänglich wird“, sagt der Nordhäuser Chefarzt Philip Heiser.
2014 wurden in den sechs Kinder- und Jugendpsychiatrien in Thüringen 2000 Patienten stationär betreut, vier Jahre zuvor waren es noch 1700, wie jüngst aus einer Antwort des Sozialministeriums auf eine Anfrage der CDU hervorging.
In Nordhausen stieg die Zahl der stationären Behandlungen Minderjähriger zwischen 2010 und 2014 von 384 auf 461 Fälle.
Nach einer Gesundheits-studie des Robert-koch-institutes, die seit 2003 über zwei Untersuchungszeiträume lief, ist inzwischen jeder fünfte Heranwachsende psychisch auffällig oder zumindest grenzwertig psychisch auffällig.
Insgesamt bleibe die Zahl zwar stabil, sagt Heiser. „Das große Problem ist aber, dass von den betroffenen Kindern nur weniger als 20 Prozent Kontakt zu einem Psychiater, Psychologen oder der Jugendhilfe bekommen. Immerhin hat sich die therapeutische Versorgung in den letzten fünf Jahren so verbessert, dass jetzt mehr Kindern und Jugendlichen geholfen werden kann“, so der Mediziner.
Das allein erklärt nicht die steigenden Behandlungszahlen. Viele der zu behandelnden Kinder leiden unter den Folgen schwieriger Lebensumstände, sind Opfer nachlässiger oder überforderter Eltern oder eines vor allem auf Leistung orientierten Schulsystems, das kaum Zeit für individuelle Betreuung und Zuwendung hat.
„Der wichtigste Prädikator für eine psychische Störung im Kindesund Jugendalter ist der soziale Status der Familie“, sagte Heiser. So arbeite man auch eng mit Kinder- und Jugendheimen zusammen. Zu den typischen Risikofaktoren für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter gehören demnach Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum während der Schwangerschaft. Nachteilig wirkten sich zudem familiäre Instabilität, psychische Erkrankungen eines Elternteils, Misshandlungen und Missbräuche oder eben schulische Schwierigkeiten wie Mobbing oder Überforderung aus.
Für Essstörungen wie die Magersucht sei das gängige Schönheitsideal, wie es nicht zuletzt von Fernsehen und Werbung vermittelt wird, als Risikofaktor anzusehen.
Unter den Jungen am Tisch ist auch Johann (Name geändert). Er ist eines der Problemkinder der Nordhäuser Klinik. Im Moment schaut er den Besuchern zwar neugierig und aufmerksam entgegen. Schon eine kleine Veränderung wie die Entlassung eines Mitpatienten oder ein Missverfolg könne ihn aber vollends aus der Bahn werfen. Die Folge sind dann heftigste Aggressionen und Wutanfälle. Stationsarzt Jürgen Köcher
Über die Eltern ihrer Patienten wollen die Mediziner nicht zu viel preisgeben – es gilt die ärztliche Schweigepflicht. Andeutungen über verwahrloste Wohnungen, Vernachlässigung sowie ständig betrunkene oder gewalttätige Bezugspersonen lassen aber erahnen, was einige der kleinen Patienten mit sich herumtragen.
„Kinder müssen im Laufe ihrer Entwicklung lernen, mit Veränderungen, Stress oder anderen Herausforderungen umzugehen. Am besten können sie das in einem Umfeld, dass ihnen Liebe und Sicherheit vermittel“, sagt Stationsarzt Jürgen Köcher.
Fehlt das, könnten schon kleinste Herausforderungen zu Verunsicherungen und Ängsten führen. Typische Störungsbilder sind dann Entwicklungsverzögerungen, Schulverweigerung, Aufmerksamkeits- und Bindungsstörungen, Trennungsoder soziale Ängste. Ganz vorn in der Hitliste der Erkrankungen in Thüringer Kinderpsychiatrien liegen zudem Depressionen und Essstörungen.
Noch einmal Prof. Heiser: „Man geht davon aus, dass 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen Angststörungen, 5 Prozent Depressionen, 8 Prozent Störungen des Sozialverhaltens und 5 Prozent ADHS haben.“
Bei ADHS handele es sich um das sogenannte Zappelphilippsyndrom, das mit Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität oder Impulsivität einhergeht.
Mit einer fast 100-jährigen Geschichte gehört die Nordhäuser Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu den ältesten ihrer Art in Thüringen. Seit man 2007 ins neue Gebäude im Norden der Roland-stadt zog, verbesserten sich die Behandlungsbedingungen deutlich. Vier- oder Fünfbett-zimmer sind seitdem passé. Statt dessen schlafen die Patienten nun in Zweibettzimmern mit hellen Möbeln. „Da ist mehr Platz, mehr Licht, mehr Raum für Individualität“, sagt Köcher. Früher mussten Kinder, die ausrasten, zu ihrer eigenen und der anderen Sicherheit auch schon fixiert, sprich festgebunden werden. Das ist jetzt Vergangenheit.
48 Betten verteilen sich heute über drei Etagen, die Patienten sind getrennt nach Altersstufen. Auf jeder Etage gibt es neben dem Pflegepersonal einen Arzt und zwei Psychologen.
Die brauchen vor allem eines: Geduld. Haben sich psychische Erkrankungen erst einmal festgesetzt, lassen sie sich nicht einfach mit ein paar Pillen kurieren.
Im Schnitt dauere eine stationäre Therapie sechs bis acht Wochen, manchmal aber auch Monate oder ein ganzes Jahr. Viele Kinder sind nicht zum ersten Mal da, manche von ihnen werden ein Leben lang mit Problemen zu kämpfen haben.
Im Obergeschoss spielen Mädchen in einem Aufenthaltsraum Karten. Ein kurzer Blick, ein flüchtiges Hallo – aufs Plaudern sind sie nicht erpicht. Noch immer werden psychische Probleme von vielen als Makel empfunden. Wer es nicht packt, wird von Gleichaltrigen auch schon mal schief angesehen.
Im geschützten Rahmen der Klinik sind die Teenager unter sich, können sich öffnen, miteinander reden.
Die Mädchen haben an diesem Vormittag Therapiegespräche, deshalb sind sie nicht in der Schule. Vor allem Patientinnen mit Essstörungen oder Suizidneigungen brauchen viel Zuwendung, die ihr Selbstwertgefühl stärkt. Das Gefühl, angenommen zu sein, auch wenn vielleicht nicht alles dem perfekten Klischee entspricht, ist ein erster Schritt zur Besserung.
Meist sind an der Behandlung mehrere Berufsgruppen beteiligt, dazu gehören neben Ärzten und Psychologen auch Sozialarbeiter, Logopäden, Lern-, Ergo-, Moto- und Musiktherapeuten. „Behandlungen finden einzeln und in der Gruppe statt. Letzteres ist wichtig, weil Kinder in einer Gruppe viel voneinander lernen“, erklärt Heiser.
Nur mit guten Worten ist es allerdings oft nicht getan. Zu den Medikamenten, die Heiser und sein Team verabreichen, gehört auch manchmal das umstrittene Ritalin. Einen Operationssaal gibt es in der Kinderpsychiatrie nicht.
Ganz wichtig: Es müssen wieder Struktur und Ordnung in das aus den Fugen geratene Leben. „Während der stationären Behandlung ist es bei uns üblich, dass die komplette Familie und die Lehrer der Heimatschule miteinbezogen werden“, sagt Chefarzt Heiser. Sozialarbeiter nehmen das häusliche Umfeld in Augenschein und geben Empfehlungen. Wenn nötig, kommt das Jugendamt ins Spiel.
Vor einem Therapiezimmer wartet ein Mädchen. Den Gruß der Besucher erwidert sie mit freundlicher Miene. So kann nur lächeln, wer wieder Hoffnung geschöpft hat.
„Kinder müssen im Laufe ihrer Entwicklung lernen, mit Veränderungen, Stress oder anderen Herausforderungen umzugehen. Am besten können sie das in einem Umfeld, dass ihnen Liebe und Sicherheit vermittelt.”