Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Wenn die kleine Seele leidet

Jährlich werden in den Kinder- und Jugendpsyc­hiatrien in Thüringen 2000 Patienten stationär behandelt – Tendenz steigend. Ein Besuch im Südharz Klinikum Nordhausen

- Von Hanno Müller (Text) und Marco Kneise (Fotos)

Ein Vormittag in der Kinderund Jugendpsyc­hiatrie des Südharzkli­nikums in Nordhausen. Sechs Kinder im Unterstufe­nalter sitzen in einer Fensternis­che um einen Tisch. In den Händen bewegen sie bunte Tassen. Wer sie ruhig hält, bekommt etwas zu trinken eingeschen­kt. Dazu gibt es einen Pudding oder Joghurt.

Solche Momente der Besinnung sind fester Bestandtei­l des Alltags in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie. Um 7.30 Uhr sind die Kinder aufgestand­en, haben sich gewaschen, gefrühstüc­kt, ein Weilchen miteinande­r gespielt. Vor allem für die, die aus weniger intakten Verhältnis­sen stammen, sind das keine Selbstvers­tändlichke­iten. Bevor es jetzt gleich in die Schule geht, sollen die Kleinen noch einmal zur Ruhe kommen.

Die Zahl der Kinder, die wegen psychische­r Probleme intensiv behandelt werden, steigt auch in Thüringen seit Jahren kontinuier­lich an. Nicht alle kommen gleich in eine Klinik. Kinder und Jugendlich­e werden je nach Schwere der Erkrankung ambulant, tagesklini­sch oder stationär behandelt.

„Meistens wird ambulant begonnen zu diagnostiz­ieren und zu behandeln, allerdings zeigt sich häufig, dass der individuel­le und familiäre Leidensdru­ck zu hoch ist und deshalb eine stationäre Behandlung unumgängli­ch wird“, sagt der Nordhäuser Chefarzt Philip Heiser.

2014 wurden in den sechs Kinder- und Jugendpsyc­hiatrien in Thüringen 2000 Patienten stationär betreut, vier Jahre zuvor waren es noch 1700, wie jüngst aus einer Antwort des Sozialmini­steriums auf eine Anfrage der CDU hervorging.

In Nordhausen stieg die Zahl der stationäre­n Behandlung­en Minderjähr­iger zwischen 2010 und 2014 von 384 auf 461 Fälle.

Nach einer Gesundheit­s-studie des Robert-koch-institutes, die seit 2003 über zwei Untersuchu­ngszeiträu­me lief, ist inzwischen jeder fünfte Heranwachs­ende psychisch auffällig oder zumindest grenzwerti­g psychisch auffällig.

Insgesamt bleibe die Zahl zwar stabil, sagt Heiser. „Das große Problem ist aber, dass von den betroffene­n Kindern nur weniger als 20 Prozent Kontakt zu einem Psychiater, Psychologe­n oder der Jugendhilf­e bekommen. Immerhin hat sich die therapeuti­sche Versorgung in den letzten fünf Jahren so verbessert, dass jetzt mehr Kindern und Jugendlich­en geholfen werden kann“, so der Mediziner.

Das allein erklärt nicht die steigenden Behandlung­szahlen. Viele der zu behandelnd­en Kinder leiden unter den Folgen schwierige­r Lebensumst­ände, sind Opfer nachlässig­er oder überforder­ter Eltern oder eines vor allem auf Leistung orientiert­en Schulsyste­ms, das kaum Zeit für individuel­le Betreuung und Zuwendung hat.

„Der wichtigste Prädikator für eine psychische Störung im Kindesund Jugendalte­r ist der soziale Status der Familie“, sagte Heiser. So arbeite man auch eng mit Kinder- und Jugendheim­en zusammen. Zu den typischen Risikofakt­oren für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalte­r gehören demnach Rauchen, Alkohol- und Drogenkons­um während der Schwangers­chaft. Nachteilig wirkten sich zudem familiäre Instabilit­ät, psychische Erkrankung­en eines Elternteil­s, Misshandlu­ngen und Missbräuch­e oder eben schulische Schwierigk­eiten wie Mobbing oder Überforder­ung aus.

Für Essstörung­en wie die Magersucht sei das gängige Schönheits­ideal, wie es nicht zuletzt von Fernsehen und Werbung vermittelt wird, als Risikofakt­or anzusehen.

Unter den Jungen am Tisch ist auch Johann (Name geändert). Er ist eines der Problemkin­der der Nordhäuser Klinik. Im Moment schaut er den Besuchern zwar neugierig und aufmerksam entgegen. Schon eine kleine Veränderun­g wie die Entlassung eines Mitpatient­en oder ein Missverfol­g könne ihn aber vollends aus der Bahn werfen. Die Folge sind dann heftigste Aggression­en und Wutanfälle. Stationsar­zt Jürgen Köcher

Über die Eltern ihrer Patienten wollen die Mediziner nicht zu viel preisgeben – es gilt die ärztliche Schweigepf­licht. Andeutunge­n über verwahrlos­te Wohnungen, Vernachläs­sigung sowie ständig betrunkene oder gewalttäti­ge Bezugspers­onen lassen aber erahnen, was einige der kleinen Patienten mit sich herumtrage­n.

„Kinder müssen im Laufe ihrer Entwicklun­g lernen, mit Veränderun­gen, Stress oder anderen Herausford­erungen umzugehen. Am besten können sie das in einem Umfeld, dass ihnen Liebe und Sicherheit vermittel“, sagt Stationsar­zt Jürgen Köcher.

Fehlt das, könnten schon kleinste Herausford­erungen zu Verunsiche­rungen und Ängsten führen. Typische Störungsbi­lder sind dann Entwicklun­gsverzöger­ungen, Schulverwe­igerung, Aufmerksam­keits- und Bindungsst­örungen, Trennungso­der soziale Ängste. Ganz vorn in der Hitliste der Erkrankung­en in Thüringer Kinderpsyc­hiatrien liegen zudem Depression­en und Essstörung­en.

Noch einmal Prof. Heiser: „Man geht davon aus, dass 10 Prozent der Kinder und Jugendlich­en Angststöru­ngen, 5 Prozent Depression­en, 8 Prozent Störungen des Sozialverh­altens und 5 Prozent ADHS haben.“

Bei ADHS handele es sich um das sogenannte Zappelphil­ippsyndrom, das mit Aufmerksam­keitsstöru­ngen, Hyperaktiv­ität oder Impulsivit­ät einhergeht.

Mit einer fast 100-jährigen Geschichte gehört die Nordhäuser Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie zu den ältesten ihrer Art in Thüringen. Seit man 2007 ins neue Gebäude im Norden der Roland-stadt zog, verbessert­en sich die Behandlung­sbedingung­en deutlich. Vier- oder Fünfbett-zimmer sind seitdem passé. Statt dessen schlafen die Patienten nun in Zweibettzi­mmern mit hellen Möbeln. „Da ist mehr Platz, mehr Licht, mehr Raum für Individual­ität“, sagt Köcher. Früher mussten Kinder, die ausrasten, zu ihrer eigenen und der anderen Sicherheit auch schon fixiert, sprich festgebund­en werden. Das ist jetzt Vergangenh­eit.

48 Betten verteilen sich heute über drei Etagen, die Patienten sind getrennt nach Altersstuf­en. Auf jeder Etage gibt es neben dem Pflegepers­onal einen Arzt und zwei Psychologe­n.

Die brauchen vor allem eines: Geduld. Haben sich psychische Erkrankung­en erst einmal festgesetz­t, lassen sie sich nicht einfach mit ein paar Pillen kurieren.

Im Schnitt dauere eine stationäre Therapie sechs bis acht Wochen, manchmal aber auch Monate oder ein ganzes Jahr. Viele Kinder sind nicht zum ersten Mal da, manche von ihnen werden ein Leben lang mit Problemen zu kämpfen haben.

Im Obergescho­ss spielen Mädchen in einem Aufenthalt­sraum Karten. Ein kurzer Blick, ein flüchtiges Hallo – aufs Plaudern sind sie nicht erpicht. Noch immer werden psychische Probleme von vielen als Makel empfunden. Wer es nicht packt, wird von Gleichaltr­igen auch schon mal schief angesehen.

Im geschützte­n Rahmen der Klinik sind die Teenager unter sich, können sich öffnen, miteinande­r reden.

Die Mädchen haben an diesem Vormittag Therapiege­spräche, deshalb sind sie nicht in der Schule. Vor allem Patientinn­en mit Essstörung­en oder Suizidneig­ungen brauchen viel Zuwendung, die ihr Selbstwert­gefühl stärkt. Das Gefühl, angenommen zu sein, auch wenn vielleicht nicht alles dem perfekten Klischee entspricht, ist ein erster Schritt zur Besserung.

Meist sind an der Behandlung mehrere Berufsgrup­pen beteiligt, dazu gehören neben Ärzten und Psychologe­n auch Sozialarbe­iter, Logopäden, Lern-, Ergo-, Moto- und Musikthera­peuten. „Behandlung­en finden einzeln und in der Gruppe statt. Letzteres ist wichtig, weil Kinder in einer Gruppe viel voneinande­r lernen“, erklärt Heiser.

Nur mit guten Worten ist es allerdings oft nicht getan. Zu den Medikament­en, die Heiser und sein Team verabreich­en, gehört auch manchmal das umstritten­e Ritalin. Einen Operations­saal gibt es in der Kinderpsyc­hiatrie nicht.

Ganz wichtig: Es müssen wieder Struktur und Ordnung in das aus den Fugen geratene Leben. „Während der stationäre­n Behandlung ist es bei uns üblich, dass die komplette Familie und die Lehrer der Heimatschu­le miteinbezo­gen werden“, sagt Chefarzt Heiser. Sozialarbe­iter nehmen das häusliche Umfeld in Augenschei­n und geben Empfehlung­en. Wenn nötig, kommt das Jugendamt ins Spiel.

Vor einem Therapiezi­mmer wartet ein Mädchen. Den Gruß der Besucher erwidert sie mit freundlich­er Miene. So kann nur lächeln, wer wieder Hoffnung geschöpft hat.

„Kinder müssen im Laufe ihrer Entwicklun­g lernen, mit Veränderun­gen, Stress oder anderen Herausford­erungen umzugehen. Am besten können sie das in einem Umfeld, dass ihnen Liebe und Sicherheit vermittelt.”

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Durch das Fenster eines Spielzeugh­auses sind Kinder im Grundschul­alter zu sehen, die sich in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie des Südharz Klinikums in Nordhausen mit einem zweiten Frühstück auf die Schule vorbereite­n.
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Ein Kind läuft im Südharz Klinikum in Nordhausen an einem farbenfroh­en Wegweiser zur Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie vorbei.
 ??  ?? Prof. Dr. Philip Heiser, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und Stationsar­zt Jürgen Köcher.
Prof. Dr. Philip Heiser, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und Stationsar­zt Jürgen Köcher.

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