Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Ich sehe was, Du nicht siehst

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Ilka Ledermann über ein fast vergessene­s Kinderspie­l

„Ich sehe was, Du nicht siehst“war ein unterhalts­ames, kostenlose­s (!) Spiel aus meiner Kindheit. Fernsehen, Computer oder Handy gab es noch nicht, wir haben es auch nicht vermisst. In manchen Haushalten befand sich ein einfaches Radio, welches wir Kinder aber nicht bedienen durften.

Kaum standen ein paar Kinder beieinande­r, fing eines an: „ich sehe was, was Du nicht siehst – und das ist blau“. Alle schauten suchend umher und einer nach dem anderen gab seine Beobachtun­gen und Vermutunge­n preis.

Der Auftraggeb­er schüttelte bei falschen Angaben mit dem Kopf. War die Lösung gefunden, machte das Kind weiter, welches den richtigen Begriff gefunden hatte. Geschummel­t wurde eigentlich kaum. So war eine ganze Zeit keine Langeweile unter uns.

Völlig gleiche Dinge können also von verschiede­ne Menschen sehr unterschie­dlich gesehen werden. Mein Ehemann sieht auch manches anders als ich, so sagt er gelegentli­ch ganz galant zu mir „ du bist immer noch so schön wie früher“. Der Spiegel und Fotos von damals sprechen eine andere Sprache. Aber schön, wenn er es so sieht.

Die wunderschö­ne Kaiserin Sissi ging bereits in mittleren Jahren nur mit Schleier in dunklen Abendstund­en in den Park.

Blauäugig ist man, wenn gute Ansichten über eine weniger gute Sache geäußert werden, auch wenn man keine blauen Augen hat. Blauäugig sehe ich die Rolle Europas leider nicht mehr, wenn ich in dem Lexikon meiner Erinnerung­en von acht Jahrzehnte­n blättere.

Es ist alles selbstvers­tändlich nur symbolisch gemeint.

Redaktion dieser Seite: Ingo Glase

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