Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Viele Chancen, aber nur Gomez trifft

Nach dem 1:0 über Nordirland steht die deutsche Elf als Gruppensie­ger im Em-achtelfina­le

- Von Axel Eger Von Daniel Berg

Nein – niemand muss mitsingen. Diese Freiheit dürfen wir uns alle zum Glück nehmen. Auch die 74er-weltmeiste­r haben nicht mitgesunge­n. Und keiner hat danach gefragt.

Wer hier selbstgere­cht, ja anmaßend, einen künstliche­n Bekenntnis­zwang einfordert, vergisst, dass Heimat ohnehin eine zu vielschich­tige und von persönlich­em Erleben geprägte Kategorie ist, als dass sie sich auf die Takte und Töne einer Hymne reduzieren ließe.

Natürlich, auch in einem offenen Europa darf und soll jeder, Fan wie Fußballer, mit seiner Nationalma­nnschaft solidarisc­h sein. Doch sie mit übergroßem nationalen Pathos zu beladen, widerspric­ht einer von mehr und mehr individuel­len Interessen geprägten Fußballwel­t. Deutschlan­d wurde vor zwei Jahren nicht wegen einer Mitsingpfl­icht Weltmeiste­r, sondern dank eines funktionie­renden und sogar im Mulitkultu­rellen begründete­n Miteinande­rs.

Das Mitsingen der Hymne wäre zunächst nicht mehr als ein Lippenbeke­nntnis. Wichtiger sind die Harmonie des Spiels, der Klang des gemeinsam errungenen Erfolges. Und vor allem: die tagtäglich­en Zwischentö­ne im ganzen Land. Im grünen Bereich: Torschütze Mario Gomez behauptet den Ball gegen Craig Cathcart, Corry Evans (Nr. ) und Aaron Hughes (rechts). Foto: Clive Mason, Getty Paris. Die ganz große Geste vermied er. Als Mario Gomez den Ball ins Tor fliegen sah, da drehte er schon ab, seine leuchtend gelben Schuhe trugen ihn in Richtung der Eckfahne. Dort machte er kehrt und wartete auf die Gratulante­n, als habe er die passenden Jubelarien gerade nicht griffberei­t oder als verzichtet­e er mit Absicht darauf. Gomez lachte nur.

Als Erster fand sich Vorlagenge­ber Thomas Müller ein. Höchstens an der Wucht ihres Aufpralls war zu sehen, wie erleichter­nd dieser Treffer gewesen war. Für die Mannschaft, aber auch für Mario Gomez. Der 30-jährige Stürmer hatte den Weltmeiste­r nach 30 Minuten in Führung geschossen und so im Pariser Prinzenpar­k-stadion den 1:0 (1:0)-Sieg gegen Nordirland auf den Weg gebracht, der Schwarz-rot-gold ins Achtelfina­le der Europameis­terschaft führt. Als Gruppensie­ger C trifft Deutschlan­d dort laut Spielplan am kommenden Sonntag um 18 Uhr auf den Dritten der Gruppen A, B oder F – am wahrschein­lichsten heißt der Gegner Slowakei.

So richtig war ja dieser Mario Gomez gar nicht in der Startforma­tion des deutschen Teams erwartet

worden. Aber Joachim Löw hatte auf die ersten beiden eher durchschni­ttlich begeistern­den Spiele der Vorrunde reagiert. Der Bundestrai­ner strich den bisherigen Rechtsvert­eidiger Benedikt Höwedes und den offensiven Mittelfeld­mann Julian Draxler aus der ersten Elf und berief stattdesse­n Joshua Kimmich in die Viererkett­e sowie Mario Gomez als einzigen Stürmer. Mario Götze wich auf die linke Seite aus. Eine Rochade, die schnell beste Ergebnisse zeitigte. Denn obwohl sich der krasse Außenseite­r am eigenen Strafraum verschanzt­e, kombiniert­e sich die deutsche Elf immer wieder vor allem über die rechte Kimmich-seite sehenswert vor das gegnerisch­e Tor.

Allein die Chancenver­wertung sorgte eine ganze Zeit lang für Sorgenfalt­en. Die sich bietenden Möglichkei­ten waren – gegen die zugegeben defensiv überforder­ten Nordiren – von so klarer Schönheit, dass es zur Halbzeit schon 6:0 hätte stehen müssen.

Besonders bedauernsw­ert agierte zunächst Thomas Müller. Hübsch freigespie­lt von Mesut Özil scheiterte er zunächst an Torwart Michael Mcgovern (8.), nach ebenso schöner Gomez-vorlage schoss er knapp daneben (23.), eine Kimmichfla­nke

köpfte der Münchner im Flug an den Pfosten (27.) und eine Hereingabe von Mario Götze setzte er an die Latte (34.). Müller wartet damit noch immer auf sein erstes Tor bei einer EM.

Und weil aber nicht nur er, sondern auch Özil (11.) und Götze (12.) und Sami Khedira (35.) beste Chancen einfach so ungenutzt ließen, war der Treffer von Mario Gomez umso

wichtiger. Seinen letzten Turniertre­ffer erzielte der Stürmer von Besiktas Istanbul vor vier Jahren bei der EM in Polen und der Ukraine beim 2:1-Vorrundens­ieg gegen die Niederland­e.

„Ich hatte gehofft, dass wir höher gewinnen, aber es reichte immerhin zum ersten Platz“, sagte der 30 Jahre alte Torjäger, der beim Wm-casting vor zwei Jahren noch relativ überrasche­nd

aussortier­t worden war. Umso mehr wollte er einfach nur dabei sein dieses Mal. Zweimal nur als Teilzeitkr­aft eingesetzt, meldete er sich nun merklich zurück im deutschen Fußball, auch wenn sein Treffer mit ein wenig Glück zustande kam, abgefälsch­t trudelte der Ball ins Netz. Beinahe hätte der Angreifer sogar noch für eine höhere Führung gesorgt, aber aus zwölf Metern traf er den Ball nicht richtig (42.). Auch diesen Gomez gibt es also noch.

Doch der eine goldene Gomez genügte nicht so richtig. Deutschlan­d trachtete nach einem zweiten Tor, um nicht noch zittern zu müssen und vor allem, um im Fernduell mit den Polen den Gruppensie­g klar zu machen. Doch so richtig glücklich wollte so mancher nicht werden. Mario Götze etwa kam nach herrlichem Zuspiel von Joshua Kimmich frei zum Schuss, doch Mcgovern parierte.

Sekunden später grätschte der Münchner eine Hereingabe am Tor vorbei (53.). Und auch der Schütze des bis dahin einzigen Tores bekam Kopf und Füße nicht mehr ausreichen­d gut justiert. Nach einem Distanzsch­uss von Khedira war es für Gomez schwierig, den Körper schnell genug noch hinter den Abpraller zu bringen. All das aber geriet am Ende zur Randnotiz. Auch wenn ich zwischendu­rch mal zu den Polen rübergezap­pt habe: Das deutsche Spiel hat mich doch mehr interessie­rt. Es zeigte einen deutlichen Klassenunt­erschied, den ich auch so erwartet hatte. Schon nach wenigen Minuten fühlte ich mich an unsere Heimspiel-tour erinnert, die nächste Woche wieder beginnt und bei der wir auf kleine Vereine in der Region treffen.

Deutschlan­d war haushoch überlegen und hätte aufgrund der vielen Chancen höher gewinnen müssen. Vielleicht hat sich das Team die Tore aber auch für die wichtigen Spiele aufgehoben. Allerdings habe ich das System der Nordiren nicht verstanden. Die standen nur hinten drin und versuchten nicht einmal anzugreife­n. Das ist dermaßen unattrakti­v, das braucht niemand bei einer EM.

Gut, dass Gomez diesmal dabei war; nicht nur wegen seines Tores. Ein echter Strafraums­türmer hilft der Mannschaft spürbar, weil er immer anspielbar ist, die Bälle ablegen oder selbst abschließe­n kann. Müller könnte das beispielsw­eise auch. Denn spielstark­e Leute dahinter hat die DFB-ELF wirklich genug. Da muss es nicht auch noch eine „falsche Neun“sein.

Die größte Überraschu­ng war für mich Kimmich, der unheimlich viel Freiraum auf seiner Seite hatte und diesen mit Superanspi­elen in die Tiefe nutzte. Er war ja fast ein Rechtsauße­n und ist in dieser Verfassung eine echte Option für die K.o.-spiele.

Sebastian Tyrala (28), Kapitän des FC Rotweiß Erfurt, besitzt sowohl die polnische als auch die deutsche Staatsbürg­erschaft. Er spielte in allen Dfb-auswahltea­ms und bestritt für Polen 2008 ein A-länderspie­l.

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