Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Viele Chancen, aber nur Gomez trifft
Nach dem 1:0 über Nordirland steht die deutsche Elf als Gruppensieger im Em-achtelfinale
Nein – niemand muss mitsingen. Diese Freiheit dürfen wir uns alle zum Glück nehmen. Auch die 74er-weltmeister haben nicht mitgesungen. Und keiner hat danach gefragt.
Wer hier selbstgerecht, ja anmaßend, einen künstlichen Bekenntniszwang einfordert, vergisst, dass Heimat ohnehin eine zu vielschichtige und von persönlichem Erleben geprägte Kategorie ist, als dass sie sich auf die Takte und Töne einer Hymne reduzieren ließe.
Natürlich, auch in einem offenen Europa darf und soll jeder, Fan wie Fußballer, mit seiner Nationalmannschaft solidarisch sein. Doch sie mit übergroßem nationalen Pathos zu beladen, widerspricht einer von mehr und mehr individuellen Interessen geprägten Fußballwelt. Deutschland wurde vor zwei Jahren nicht wegen einer Mitsingpflicht Weltmeister, sondern dank eines funktionierenden und sogar im Mulitkulturellen begründeten Miteinanders.
Das Mitsingen der Hymne wäre zunächst nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Wichtiger sind die Harmonie des Spiels, der Klang des gemeinsam errungenen Erfolges. Und vor allem: die tagtäglichen Zwischentöne im ganzen Land. Im grünen Bereich: Torschütze Mario Gomez behauptet den Ball gegen Craig Cathcart, Corry Evans (Nr. ) und Aaron Hughes (rechts). Foto: Clive Mason, Getty Paris. Die ganz große Geste vermied er. Als Mario Gomez den Ball ins Tor fliegen sah, da drehte er schon ab, seine leuchtend gelben Schuhe trugen ihn in Richtung der Eckfahne. Dort machte er kehrt und wartete auf die Gratulanten, als habe er die passenden Jubelarien gerade nicht griffbereit oder als verzichtete er mit Absicht darauf. Gomez lachte nur.
Als Erster fand sich Vorlagengeber Thomas Müller ein. Höchstens an der Wucht ihres Aufpralls war zu sehen, wie erleichternd dieser Treffer gewesen war. Für die Mannschaft, aber auch für Mario Gomez. Der 30-jährige Stürmer hatte den Weltmeister nach 30 Minuten in Führung geschossen und so im Pariser Prinzenpark-stadion den 1:0 (1:0)-Sieg gegen Nordirland auf den Weg gebracht, der Schwarz-rot-gold ins Achtelfinale der Europameisterschaft führt. Als Gruppensieger C trifft Deutschland dort laut Spielplan am kommenden Sonntag um 18 Uhr auf den Dritten der Gruppen A, B oder F – am wahrscheinlichsten heißt der Gegner Slowakei.
So richtig war ja dieser Mario Gomez gar nicht in der Startformation des deutschen Teams erwartet
worden. Aber Joachim Löw hatte auf die ersten beiden eher durchschnittlich begeisternden Spiele der Vorrunde reagiert. Der Bundestrainer strich den bisherigen Rechtsverteidiger Benedikt Höwedes und den offensiven Mittelfeldmann Julian Draxler aus der ersten Elf und berief stattdessen Joshua Kimmich in die Viererkette sowie Mario Gomez als einzigen Stürmer. Mario Götze wich auf die linke Seite aus. Eine Rochade, die schnell beste Ergebnisse zeitigte. Denn obwohl sich der krasse Außenseiter am eigenen Strafraum verschanzte, kombinierte sich die deutsche Elf immer wieder vor allem über die rechte Kimmich-seite sehenswert vor das gegnerische Tor.
Allein die Chancenverwertung sorgte eine ganze Zeit lang für Sorgenfalten. Die sich bietenden Möglichkeiten waren – gegen die zugegeben defensiv überforderten Nordiren – von so klarer Schönheit, dass es zur Halbzeit schon 6:0 hätte stehen müssen.
Besonders bedauernswert agierte zunächst Thomas Müller. Hübsch freigespielt von Mesut Özil scheiterte er zunächst an Torwart Michael Mcgovern (8.), nach ebenso schöner Gomez-vorlage schoss er knapp daneben (23.), eine Kimmichflanke
köpfte der Münchner im Flug an den Pfosten (27.) und eine Hereingabe von Mario Götze setzte er an die Latte (34.). Müller wartet damit noch immer auf sein erstes Tor bei einer EM.
Und weil aber nicht nur er, sondern auch Özil (11.) und Götze (12.) und Sami Khedira (35.) beste Chancen einfach so ungenutzt ließen, war der Treffer von Mario Gomez umso
wichtiger. Seinen letzten Turniertreffer erzielte der Stürmer von Besiktas Istanbul vor vier Jahren bei der EM in Polen und der Ukraine beim 2:1-Vorrundensieg gegen die Niederlande.
„Ich hatte gehofft, dass wir höher gewinnen, aber es reichte immerhin zum ersten Platz“, sagte der 30 Jahre alte Torjäger, der beim Wm-casting vor zwei Jahren noch relativ überraschend
aussortiert worden war. Umso mehr wollte er einfach nur dabei sein dieses Mal. Zweimal nur als Teilzeitkraft eingesetzt, meldete er sich nun merklich zurück im deutschen Fußball, auch wenn sein Treffer mit ein wenig Glück zustande kam, abgefälscht trudelte der Ball ins Netz. Beinahe hätte der Angreifer sogar noch für eine höhere Führung gesorgt, aber aus zwölf Metern traf er den Ball nicht richtig (42.). Auch diesen Gomez gibt es also noch.
Doch der eine goldene Gomez genügte nicht so richtig. Deutschland trachtete nach einem zweiten Tor, um nicht noch zittern zu müssen und vor allem, um im Fernduell mit den Polen den Gruppensieg klar zu machen. Doch so richtig glücklich wollte so mancher nicht werden. Mario Götze etwa kam nach herrlichem Zuspiel von Joshua Kimmich frei zum Schuss, doch Mcgovern parierte.
Sekunden später grätschte der Münchner eine Hereingabe am Tor vorbei (53.). Und auch der Schütze des bis dahin einzigen Tores bekam Kopf und Füße nicht mehr ausreichend gut justiert. Nach einem Distanzschuss von Khedira war es für Gomez schwierig, den Körper schnell genug noch hinter den Abpraller zu bringen. All das aber geriet am Ende zur Randnotiz. Auch wenn ich zwischendurch mal zu den Polen rübergezappt habe: Das deutsche Spiel hat mich doch mehr interessiert. Es zeigte einen deutlichen Klassenunterschied, den ich auch so erwartet hatte. Schon nach wenigen Minuten fühlte ich mich an unsere Heimspiel-tour erinnert, die nächste Woche wieder beginnt und bei der wir auf kleine Vereine in der Region treffen.
Deutschland war haushoch überlegen und hätte aufgrund der vielen Chancen höher gewinnen müssen. Vielleicht hat sich das Team die Tore aber auch für die wichtigen Spiele aufgehoben. Allerdings habe ich das System der Nordiren nicht verstanden. Die standen nur hinten drin und versuchten nicht einmal anzugreifen. Das ist dermaßen unattraktiv, das braucht niemand bei einer EM.
Gut, dass Gomez diesmal dabei war; nicht nur wegen seines Tores. Ein echter Strafraumstürmer hilft der Mannschaft spürbar, weil er immer anspielbar ist, die Bälle ablegen oder selbst abschließen kann. Müller könnte das beispielsweise auch. Denn spielstarke Leute dahinter hat die DFB-ELF wirklich genug. Da muss es nicht auch noch eine „falsche Neun“sein.
Die größte Überraschung war für mich Kimmich, der unheimlich viel Freiraum auf seiner Seite hatte und diesen mit Superanspielen in die Tiefe nutzte. Er war ja fast ein Rechtsaußen und ist in dieser Verfassung eine echte Option für die K.o.-spiele.
Sebastian Tyrala (28), Kapitän des FC Rotweiß Erfurt, besitzt sowohl die polnische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Er spielte in allen Dfb-auswahlteams und bestritt für Polen 2008 ein A-länderspiel.