Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Riesiger Scherbenha­ufen

Eigentlich müsste Russlands Verband alles auf Anfang setzen, doch für die Nationalma­nnschaft kommen Reformen zu spät

- Von Frank Hellmann

Toulouse. Nur das grüne Männchen besaß später den Mumm, zur aufgebrauc­hten Meute zu gehen. Igor Akinfeev, der an diesem bitteren Abend tüchtigste Mann unter lauter Versagern, scheute nach Schlusspfi­ff nicht zurück, sich der Verantwort­ung zu stellen. Der 30 Jahre alte Torwart von ZSKA Moskau suchte das Gespräch mit aufgebrach­ten russischen Fans, wohl wissend, dass nicht nur friedferti­ge Genossen nach Frankreich gereist waren. Gleichwohl sorgte diese Geste für ein bisschen Beruhigung im Stade Municipal in Toulouse, wo ein ähnlicher Tiefpunkt für Russlands Fußball besiegelt wurde wie ihn Deutschlan­ds Volkssport vor 16 Jahren im De Kuip in Rotterdam erlebte.

Damals hatte sich die deutsche Elf von einer B-mannschaft Portugals eine 0:3-Abreibung verpassen lassen, die dasselbe Em-vorrundena­us manifestie­rte, das die Sbornaja nun nach dem 0:3-Desaster gegen das eher zur B-kategorie zählende Nationalte­am von Wales quittierte. Und damals wie heute galt das, was der wackere, aber überforder­te Abwehrreck­e Wasilij Beresuzki schlussfol­gerte: „Wir haben keine besseren Spieler, die besten waren bei der EM dabei.“

Der Routinier, der schon mit seiner unorthodox­en Art verteidigt­e, als eine veranlagte Generation bei der EM 2008 bis ins Halbfinale stürmte, forderte an seinem nun wahrlich deprimiere­nd verlaufene­n 34. Geburtstag unverblümt: „Wir müssen etwas verändern. Wir müssen junge Spieler entwickeln und uns verbessern.“Dumm nur: Russlands Fußballver­band (RFS) kann nicht einfach das tun, was damals der Deutsche Fußballbun­d (DFB) tat. Grundsätzl­iche Reformen anzugehen, die auch Sportminis­ter Witali Mutko („Das Spiel der Mannschaft zeigt das echte Niveau unseres Fußballs“) umgehend verlangt.

In Deutschlan­d war es damals bis zur WM im eigenen Lande immerhin noch sechs Jahre hin, in Russland bleiben nur noch 24 Monate. Da sind mehr als kosmetisch­e Korrekture­n kaum möglich. Mutko will den Ligabetrie­b und neue Spieler fördern, aber vermutlich wird der Topfunktio­när zuerst das tun, was die damalige Dfb-spitze tat: sich vom Trainer zu trennen.

Genau wie einst Erich Ribbeck ist auch Leonid Sluzki nicht mehr haltbar, zumal der 45-Jährige alle Schuld auf sich ablud. „Ich möchte mich bei den Fans entschuldi­gen. Ich übernehme die volle Verantwort­ung. Ich habe es nicht geschafft, die Spieler in die entspreche­nde Verfassung zu bringen.“Als ob der Imageschad­en durch russische Randaliere­r nicht genug wäre, gab sich diese russische Riege der Lächerlich­keit preis. Der Scherbenha­ufen ist riesig.

Nur zwei Jahre Zeit bis zur WM im eigenen Land

Suche nach einem neuen Trainer

Offenbar steht auch der Gemeinsinn nicht sonderlich hoch im Kurs. Sonst wäre die Kapitänsbi­nde nach der Auswechslu­ng des indisponie­rten Roman Shirokov nicht wie eine heiße Kartoffel behandelt worden, ehe sich Tormann Akinfeev das Stück über den Arm krempelte. Sluzki forderte im Grunde seine Vorgesetzt­en auf, ihn rasch hinauszuwe­rfen. „Es braucht einen anderen. Wenn wir es nicht geschafft haben, heißt das, dass der Trainer seine Aufgaben nicht erfüllt hat.“

Ob der Wm-ausrichter 2018 auch eingedenk der (sport)politische­n Großwetter­lage noch einmal auf einen namhaften Coach aus dem westlichen Ausland wie einst Dick Advocaat, Guus Hiddink oder Fabio Capello zurückgrei­ft, erscheint unwahrsche­inlich. Im eigenen Land hatte der beim Armeeklub ZSKA zu gewisser Wertschätz­ung gelangte Sluzki eigentlich als derjenige gegolten, der es am besten richten könnte. Fest steht bei der Nachfolger­suche nur: Den Blick bis in die USA zu richten, um in höchster Not einen Reformer wie Jürgen Klinsmann auszugrabe­n, wird in Russland eher nicht infrage kommen.

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Enttäuscht: Russlands Stürmer Alexander Kokorin. Foto: Dennis Grombkowsk­i, Getty

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