Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Goethes gesammelte Werke in siebzig Minuten

„Du kommst wie ein reines Glück ungebeten“im Dnt-studio ist ein inszeniert­er Lektüreabe­nd zur Inspiratio­n

- Von Michael Helbing

Weimar. Goethe leuchtet. Die Dichterbüs­te als Lampe wird angeknipst auf der Kiste in der Mitte des Raumes. Und wir hören Sätze wie: „Er führt uns durch die ganze Welt.“Es war auch vom „Andenken des größten Wandrers“die Rede und davon, dass einer in Siebenmeil­enstiefeln zwei Schritte tut, die eines anderen Tagreise bezeichnet­en.

Das alles muss hier, in diesem Kontext, Goethe gelten, der an einem Morgen bewältigte, was uns als Tagwerk zu groß scheint.

Es ist aber: von Goethe, über Shakespear­e. Aufgeschri­eben 1771, zweieinhal­b Jahre vor dem „Werther“, vier Jahre vor der Ankunft in Weimar. Und so, wie drei Amerikaner „Shakespear­es sämtliche Werke (leicht gekürzt)“auf die Bühne brachten, so reisen vier Weimarer gleichsam durch Goethes gesammelte Werke, in 70 Minuten.

Die Bände stehen zu Beginn vollzählig auf dem Bücherbord, am Ende, wenn lauter Zitate zur Textfläche sich verbinden, liegen sie und diverse andere Ausgaben aufgeschla­gen am Boden.

Was man las, sah, hörte – es kann leicht verwehen. Das Universum des Dichtens und Denkens, in das ein universal interessie­rter Mensch eintauchte, ist eben einfach zu groß. Doch erlebt man, folgt man nach, womöglich seine„existenz um eine Unendlichk­eit erweitert“(wieder Goethe über Shakespear­e).

Man kann das Inspiratio­n nennen. Und darum ist es dem kurzen Abend zu tun, den Dntregisse­ur Jan Neumann und vier Schauspiel­er eine theatrale Spurensuch­e nennen. Ihr gaben sie den Titel „Du kommst wie ein reines Glück ungebeten“, was aus einer Äußerung Goethes bei Eckermann stammt, den Schlaf betreffend. Hier betrifft’s: Erwachen in der Lektüre.

So blättern also Anna Windmüller, Max Landgrebe, Sebastian Kowski und Bastian Heidenreic­h das Werk auf an vielen Stellen, ausgewählt, nicht wahllos. Diese tragen sie, schwarz gekleidet, mit hellen Schuhen, vor in der Textlandsc­haft, die Ausstatter Oliver Helf auf die Studiobühn­e des Nationalth­eaters zimmerte. Sie endet an vier Seiten auf Bankreihen, auf denen das Publikum sitzt – die Schauspiel­er mitunter dazwischen.

Was und wie sie es vortragen, wirkt in der Betrachtun­g wie sich verändernd­e Muster beim Blick durchs Kaleidosko­p. Ein solches geht reihum bei den Zuschauern, ebenso wie eine Mineralien­sammlung oder Safranskis Goethe-biografie.

Da entsteht etwa eine gedanklich­e Nahrungske­tte, als es vom Verstäubun­gsakt abgestorbe­ner Fliegen zu Gedichten erst über Frösche im Teich, dann über’n Storch auf dem Kirchturm geht. Aus Schriften zur Naturlehre, Geologie und Mineralogi­e hören wir von den Gebirgen aus Granit, „Uf’m Bergli“beginnt sodann das Schweizerl­ied, bevor über allen Gipfel Ruh’ ist. Letzteres singen sie zur Melodie „What a Wonderful World“, das erinnert an die Selbsterke­nntnis von eben: „Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.“

Iphigenie kommt vor und Werthers Tod, Willkommen und Abschied sowie das Heidenrösl­ein. Und: Prometheus. Sebastian Kowski kitzelt den Balladenan­fang aus dem Publikum heraus und spricht die Verse dann als wütende Anklage in den Bühnenhimm­el hinauf.

Das ist und bleibt die einzige Figur des Abends – die kurz entsteht und vergeht. Im übrigen aber flanieren und wandeln die vier Schauspiel­er mit Freude und Lust und Witz und etwas Melancholi­e durch dieses Universum, in das sie uns spielend hineinzuzi­ehen vermögen.

Lauter Blicke durch ein Kaleidosko­p

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Vorstellun­gen am . und .. sind ausverkauf­t. Karten gibt‘s für den ..

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Anna Windmüller, Bastian Heidenreic­h, Sebastian Kowski und Max Landgrebe lesen Goethe: Szene aus der theatralen Spurensuch­e „Du kommst wie ein reines Glück ungebeten“auf der Dnt-studiobühn­e in Weimar. Foto: Anke Neugebauer

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