Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Leseprobe: Schorlemmer schreibt an Papst Franziskus
Hochverehrter Papst Franziskus,
als Protestant wende ich mich voller Sympathie und großem Respekte an Sie, von Herzen dankend für all das, was Sie in der kurzen Zeit Ihres Pontifikates bereits angestoßen haben. Der „Briefwechsel“zwischen dem großen Rom und dem kleinen Wittenberg, zwischen Römischem Papst und Wittenberger Bibelprofessor ist seit 1520 wahrlich nicht gerade das, was man einen guten Umgang zwischen Christen zu nennen vermag. Beide Seiten haben sich nichts geschenkt und mögen sich nun nicht nur schämen oder für längst Überwundenes entschuldigen, sondern sie mögen gemeinsam nach heutigen so großen Herausforderungen für uns Christen fragen und sich engagieren: für den gefährdeten Frieden, für die Überwindung der Welt-ungerechtigkeit, für die Bewahrung unserer bedrohten Schöpfung.
Gemeinsam werden wir Erkenntnis und Hoffnung, Kraft und Freude, Grundvertrauen und Orientierung in der Heiligen Schrift suchen und finden – beginnend immer mit dem Lobpreis und mit der Dankbarkeit für das Leben. Aus Ehrfurcht für das Leben! Der Freude lassen Sie Sorge folgen, die sich vor der Lähmung zu hüten vermag.
Also aus Wittenberg – der Stadt des Thesenanschlages von 1517 – schreibe ich Ihnen. Dies war die Stadt eines großen, europaweiten Reformimpulses. Und sie war Ausgangspunkt einer schmerzlichen Spaltung der westlichen Kirche. Ecclesia semper reformanda – Kirche ist eine sich stets reformierende, an ihre Wurzeln und an ihren Auftrag sich permanent erinnernde, also auch selbstkritische Kirche.
Sie haben durch ihre Person und durch die Zeichen, die Sie wieder und wieder wirkungsvoll gesetzt haben, der römisch-katholischen Kirche – aber auch weltweit den Kirchen – ein wenig von der lebensnotwendigen Glaubwürdigkeit zurückgeben, ja schenken können – in gemeinsamer Verantwortung für die besonderen Herausforderungen: Urbi et orbi! Ich spüre und teile Ihre Sorge um unser gemeinsames Haus. Mich besticht und ermutigt ihre Klarheit, Ihr Wahrheitsmut, Ihre Hoffnung. Wer bin ich, dass ich mich an Sie wenden dürfte? (...)