Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Wenn Soja das Fleisch ersetzt
180 Jahre lang hat die Rügenwalder Mühle Wurst verkauft – Jetzt sorgen vegetarische Produkte für Aufschwung
Wittkowski will zeigen, wie der Verkaufsschlager der Rügenwalder Mühle, der „Vegetarische Schinken Spicker“, aussieht, bevor er freundlich grün verpackt im Kühlregal der Supermärkte landet: eine rosarote Masse, die mehr an Erdbeerjoghurt denn an Wurst erinnert. Ein Arbeiter wacht neben einem runden, tosenden Stahlbehälter, der das Gemisch, mehrheitlich aus Eiklar, Wasser, Öl, Farbstoffen und Gewürzen, kräftig rüttelt. Aus bis zu 15 Komponenten besteht eine Veggie-wurst, die normale aus nur etwa fünf. Später presst ein Stahlrohr die Masse in Kunststoffpelle zur Wurstform. Ein Arbeiter hängt die wässrigen Würste auf eine Stange, bereit zum Festkochen. „Damit haben wir schon echte Fleischermeister gefoppt.“Wittkowski findet das witzig. Derlei Gelassenheit musste unter den Arbeitern erst einmal reifen. Jeder in der Produktion muss mal Fleisch, mal Veggie herstellen.
Bis vor Kurzem waren Firmenpatriarch Rauffus gesellschaftliche Erscheinungen wie die des „Flexitariers“selbst noch fremd. Nun aber fordert er von seinen Mitarbeitern mindestens die Flexibilität eines Teilzeit-vegetariers. Wenn man dem 63Jährigen eines nicht vorwerfen kann, dann jenen Altersstarrsinn, mit dem schon viele langjährige Chefs ihr Unternehmen in die Sackgasse führten. Statt sich an Traditionen zu klammern, haben er und sein langjähriger Marketingchef Godo Röben den Kunden zugehört und verstanden, dass diese mehr und mehr grün ticken. Seit Jahren nimmt der Fleischkonsum ab. 1991 aßen die Deutschen jährlich noch 64 Kilo pro Kopf. 2005 waren es nunmehr 59,2. Gleichzeitig ist ein riesiger Markt für vegetarische Produkte entstanden. Um 31,5 Prozent ist der Absatz von Fleischersatzprodukten 2015 im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Der Umsatz der Fleischwarenindustrie hingegen stieg nur um 0,7 Prozent. Dem Vegetarierbund Deutschland zufolge ernähren sich hierzulande 7,8 Millionen Menschen vegetarisch, das sind rund zehn Prozent der Bevölkerung. 42 Millionen verzichten an drei oder mehr Tagen in der Woche auf Fleisch.
In den vergangenen fünf Jahren vor der Veggie-zeit sind die Umsätze der Mühle jährlich nur um ein bis zwei Prozent gewachsen. Im vergangenen Geschäftsjahr gab es ein Umsatzplus von 17 Prozent. Von den 500 Tonnen produzierter Wurst pro Woche sind 100 Tonnen vegetarisch. Um das zu stemmen, hat das Unternehmen von rund 500 auf mittlerweile 600 Mitarbeiter innerhalb weniger Monate aufgestockt.
Doch mittlerweile haben Verbraucherschützer auch den Fleischersatz ins Visier genommen,
Wir haben immer gewusst, im ersten Jahr werden wir gehypt, im zweiten treten die Kritiker auf den Plan.
Godo Röben, Marketingleiter
weil die Produkte so stark verarbeitet sind. Zu viele Geschmacksstoffe, Stabilisatoren, Gen-soja, lautet vielfach die Kritik. Bei dem jüngst von der Stiftung Warentest veröffentlichten Test von Fleischersatzprodukten schnitt das „Vegetarische Mühlen Schnitzel“der Rügenwalder Mühle mit „mangelhaft“ab. „Sehr hoch mit Mineralölbestandteilen belastet“, so das Fazit der Tester.
In Bad Zwischenahn ist man um Schadensbegrenzung bemüht: Man habe eine entsprechende Zutat inzwischen ausgetauscht. „Wir haben immer gewusst, im ersten Jahr werden wir gehypt, im zweiten treten die Kritiker auf den Plan“, sagt Röben.