Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Senoussi-beduinen und Marlboro-cowboys
Ein Jenaer Forschungsprojekt zur 150-jährigen Kulturgeschichte der Zigarette
Jena. „Vielleicht stoßen in 20, 30 oder 50 Jahren Geschichtsstudenten auf unsere Bücher“, schildert der Jenaer Historiker Rainer Gries eine Vision, „und schütteln die Köpfe, womit wir uns befasst haben.“– Mit einem Massen-phänomen des vorigen Jahrhunderts, einem jedoch, das sich in blauem Dunst auflöst: der Kulturgeschichte der Zigarette. Professor Gries hat dazu einen interdisziplinären Forscherverbund geschmiedet, das Bundeswissenschaftsministerium förderte das dreijährige Projekt mit einer Million Euro. Nun liegen drei der vier geplanten, reich bebilderten und gut lesbaren Abschlussbände vor (Jonas-verlag, Kromsdorf bei Weimar) und belegen eine verblüffende Erkenntnis: Die Zigarette diente seit je als ein Medium der Begegnung, ja das Rauchen besaß sogar verborgene politische Dimensionen.
Ab 1862 wurde der Glimmstängel in Deutschland fabrikmäßig gefertigt und verdrängte rasch als Objekt der Begierde die anderen nikotinösen Darreichungsformen aus dem Sichtfeld hiesiger Raucher, welche sich nicht allein der zeitgenössischen Werbung wegen für modern und mondän halten mochten. Die Jenaer Forscher kooperierten mit dem Museum der Arbeit in Hamburg-barmbek, das mit dem Archiv des Tabakunternehmers Reemtsma einen gewichtigen Fundus authentischen Materials enthält. Die Weltläufigkeit des Rauchens hatte nämlich auch mit den Inhaltsstoffen zu tun: Bis Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die „deutsche“Zigarette vornehmlich aus orientalischen Tabaken hergestellt. So fühlte man sich dieser Weltgegend empathisch verbunden, selbst wenn dieses Gefühl mehr auf Mythen und Vorstellungen beruhte, die durch die Werbung mit exotischen Motiven – Beduinen oder Haremsdamen – befeuert wurden. So gingen Sucht und Sehnsüchte für die Konsumenten von Anbeginn an Hand in Hand.
Dass das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg ein Verbündeter war und man wirtschaftlich etwa beim Bau der Bagdadbahn half, passt da ins Bild. Gries & Co. haben die „Rauchzeichen“auf drei Ebenen analysiert: auf der Ebene von Physis und Materialität, auf der von Werbung und Kommunikation sowie auf der politischer Bedeutungen. Bei weitem nicht alles wurde strategisch gesteuert.
Das „Weihnachtswunder“von 1914 – die Verbrüderung deutscher und französischer Soldaten über die Schützengräben hinweg – gehörte zu den unerwünschten Implikationen. Professor Rainer Gries, Historiker
Gries schildert genüsslich, wie das anfing: „Sie haben ja nicht gleich miteinander – und in verschiedenen Sprachen – Weihnachtslieder gesungen, sondern als erstes haben sie Zigarettenpäckchen als Geschenke in die gegnerischen Gräben geworfen.“Dann wurde zusammen geraucht, obschon der Anruch von Abenteuer, wie er heute auf Gehsteigen vor Szenekneipen wabern mag, gewiss nicht das verbindende Element war.
Vielmehr das Elend, die Not. „Ohne Zigaretten wäre ein solcher Krieg nicht vorstellbar gewesen“, sagt Rainer Gries. In einem Zustand absoluten Kontrollverlusts über das eigene Leben, in dem jegliche Handlung auf Befehl und Gehorsam beruhte und man knöcheltief durch Morast watete und den Gestank von Leichen und Fäkalien aushalten musste, da sicherte jedes Zigaretterauchen dem Soldaten noch einen Funken von Souveränität, dank der süßlichen, schweren Düfte der Orienttabake auch einen Rest von Privatheit sowie eine Reminiszenz an die Heimat – woher das Rauchzeug auch kam. Insofern habe die Zigarette ebenso als ein Medium zur Begegnung mit sich selbst gedient, sagt der Jenaer Professor.
Dass Rauchen ungesund ist, ahnte man früh, schon 1929 stellte der Internist Fritz Lickint den Konnex zur Krebsentstehung her, und ausgerechnet an der Universität Jena gründete der Rasseideologe und spätere Rektor Karl Astel zur Nazizeit ein Tabakforschungsinstitut. Gegen den blauen Dunst schritten die Nazis dennoch nicht ein; das Kriegführen war ihnen doch wichtiger als die Volksgesundheit. Ende der 1940er Jahre, schätzt Gries, lag der Raucheranteil unter der männlichen Bevölkerung über 90 Prozent.
Doch trat ein wichtiger Wandel im
Mit allen (Sehn-)süchten dem Orient verbunden
„Im Ersten Weltkrieg war dem Soldaten an der Front eine Packung Zigaretten wichtiger als die ,dicke Berta‘ hinter den Linien.“
Zuge der Demokratisierung und Amerikanisierung der Warenwelt ein: Die orientalischen Tabake wurden verdrängt von „american blend“. Gries: „Der neuen politischen Verfassung wird eine neue Produktverfassung zur Seite gestellt. So inhaliert man das neue Gedankengut.“1964 gab Us-präsident John F. Kennedy den Terry-gesundheitsreport in Auftrag, doch lösten dessen Ergebnisse nur einen kurzen Schreck unter den Konsumenten aus. Der Duft der großen, weiten Welt, den wir dem Stadtgründer New Yorks, Peter Stuyvesant, verdanken, oder die Freiheit und Lagerfeuerromantik eines Us-cowboys, die ab 1971 Marlboro zum Marktführer machte oder der 1989/90 plakatierte Slogan „Test the West“zählen zu den großartigsten Werbe-ikonografien des 20. Jahrhunderts. Seit dem triftigen Einschreiten der Eu-gesundheitspolitik ist nahezu Schluss damit; das Rauchverbot in Gaststätten seit 2006 hat jede Hoffnung, der Jahreskonsum von 130 Milliarden Stück anno 1981 könne je wieder erreicht werden, verfliegen lassen.
„Die Zigarette wird als Nischenprodukt wahrscheinlich weiterexistieren“, prophezeit Professor Gries, „ihre politische Relevanz ist geschwunden.“Auf der Ebene der Produktkommunikation, des Habituellen und der Selbstvergewisserung macht Gries allerdings einen Nachfolger aus: das Smartphone.
Große Werbe-ikonen des vorigen Jahrhunderts
„Zigaretten-fronten“, „Die Welt in einer Zigarettenschachtel“, „Als die Zigarette giftig wurde“und „Rauchen im Sozialismus“– alle im Jonas Verlag, Kromsdorf, je Euro