Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
In der Mitte der Gemeinschaft
„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“: Daniel Klajners Nordhäuser Luther-musical bringt eine ganze Stadt aus dem Häuschen
Nordhausen. Hoch lassen die Leut‘ ihren Luther leben, und sie feiern ihn, weil er vorm Wormser Reichstag standhaft geblieben, weil er der Reformator und Bibelübersetzer und – ja, vor allem – weil er einer von ihnen ist. Da wimmelt‘s nur so vor fröhlichem Volk auf der Bühne: Der Hymnus, der à la Mendelssohn Anleihen beim Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“nimmt, bildet den Höhepunkt des Reformations-musicals „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“von Daniel Klajner. Der Intendant, Autor, Komponist und Dirigent wird nach der Uraufführung am Sonntagabend in Nordhausen frenetisch von „seinem“Publikum bejubelt – aus nämlichem Grunde.
Denn Klajner hatte weder eine musikalische Revolution noch die Revision des Luther-bildes im Sinn, sondern schlicht steht er ein, wofür er nicht anders kann: für die Kunst. Wie Luther auf der Bühne, so wirkt auch der Künstler-intendant bei dieser Premiere an ungewohntem Ort, der St. Blasii-kirche, völlig unprätentiös und im Dienst des Gemeinwesens. Er fungiert als eine Art Kultur-hirte, als ein Vermittler, der lediglich die Ensembles des Theaters Nordhausen, die ungezählten Laien-darsteller sowie die ganze Stadt dazu anstiften wollte, sich mit Luther und allem, was ihn bewegt, dem Glauben, der Religion und der Kirche zu befassen.
Und das ist in großartiger Weise geglückt. Klajner hatte zu Beginn seiner Amtszeit angekündigt, dass er dem Publikum unterschwellige Angebote unterbreiten wolle, um die soziokulturelle Aufgabe des Theaters zu leisten. An diesem Sonntag ist schier die ganze Stadt auf den Beinen: Der Nordhäuser Kinderchor und die Kantorei singen mit, es spielen die „Silberdisteln“, der Theaterjugendclub und der Junge Zirkus Zappelini sowie Bürger der Stadt – bis hin zum Landrat – in kleineren Rollen auf Augenhöhe neben den Profis. Da bleibt eine Woche nach Ostern in St. Blasii nicht eine Sitzbank frei. Die Leut‘ sind regelrecht enthusiasmiert, „unser Luther-musical“ist naturgemäß Stadtgespräch. So also wird das Theater, wird auch das, was die Kirche betrifft, in Nordhausen verortet: in der Mitte der Gemeinschaft.
Musikalisch bewegt der Komponist Klajner sich in überschaubar geordneten Bahnen. Die vokalen Partien stellen niemanden vor unüberwindliche Schwierigkeiten, das Lohorchester in minimaler Besetzung – Streichquartett, einfaches Holz, Harfe plus Schlagwerk – trägt vornehmlich stützende Funktion. Thomas Kohl darf sich als wuchtiger, inbrünstig intonierender Luther auszeichnen, Anja Daniela Wagner als warmherzige Katharina von Bora.
Unter den Darstellern mit Sprechrollen dominiert – wie entfesselt! – Chefdramaturgin Anja Eisner als Papst Leo X. – nicht allein wegen der edelsteinfunkelnden Tiara auf ihrem Haupt. Aber auch Andreas Schwarze als Melanchthon und Karsten Bothe als Kardinal Cajetan überzeugen mit minutiöser Präsenz; überhaupt wäre da niemand unter den eifrigen Mitwirkenden für seinen Einsatz zu kritisieren; zwar gehört dieses Musical nun nach Nordhausen, könnte sich kraft seiner Qualität aber ebenso gut andernorts sehen und hören lassen.
Regisseur Christian Georg Fuchs kommt mit einem Minimum an Aufwand aus. Im Altarraum hat Wolfgang Kurima Rauschning ihm eine kleine quadratische Bühne mit einer stilisierten Sonnenscheibe im Hintergrund improvisiert. Großer Musical-zauber mit allerlei Effekt und Chi-chi wäre zwar in Sachen Luthers denkbar gewesen, war aber hier gar nicht erwünscht. Ernsthaftigkeit und Selbstgewissheit und in aller Demut ergeben eben auch eine Haltung.
Das Stück selbst zeichnet episodenhaft die Biografie Martin Luthers nach. Eine ganze Lebensspanne verdichtet sich so auf gut 90 Minuten: Kaum haben wir den fragwürdigen Helden im Kreise der Schabernack treibenden Erfurter Jura-studenten gesehen, schon widerfährt ihm das Erweckungserlebnis im Stotternheimer Gewitter, das vom Ballett dargestellt wird. Einen Wimpernschlag später erschüttert ihn die Dekadenz der Kirche in Rom, und im Nu ist er wieder in Wittenberg, um gegen Tetzels Geschäft mit den Ablässen zu wettern. Der Reichstag, die Wartburg, die von Katharina initiierte (Liebes-)zweck-ehe, das zünftige Hochzeitsfest und das unvermittelte Ende: Luthers Leben vergeht wie im Fluge. Suchte man partout nach vermeidbaren Unzulänglichkeiten, man fände sie womöglich in des Komponisten eigenhändigem Libretto. Da mögen die zuweilen etwas papierenen Dialoge allzu sehr den Geschichtsbüchern statt dem wirklichen Leben entlehnt sein, als dass es uns diesen ach so fernen Renaissancemenschen real erscheinen ließe, und Klajner kann sich nicht recht entscheiden, ob er Luther als historische Figur mit ihren Zweifeln und Selbstzweifeln in religiösen wie kirchlichen Fragen ins Zentrum stellt oder den Menschen Martin mit seiner Liebe, seinem Starrsinn und seiner charakterlichen Borstigkeit. Das bleibt ambivalent und stiftet zumal im Finale, wenn ein Zug der Geister dem vom Irdischen Scheidenden aus seinen fatalen Verdikten gegen allzu freiheitsliebende Bauern und Müntzer als Rädelsführer, gegen Juden und gegen Behinderte berechtigte Vorwürfe macht, reichlichen Diskussionsstoff.
Eher beiläufig beispielhaft, jedoch tief und subkutan vermittelt Klajner die Botschaft des Reformators: dass wir nicht durch unsere Verdienste auf Erden, sondern allein durch Gottes Gnade erlöst werden. Dieserhalb rechne man ihm dieses Werk, das uns allen das Herz gewärmt hat, nicht im Himmel als einen Verdienst an. Sondern allhier. Chapeau!
Minimaler Aufwand beim Bühnenbild
Ambivalenzen der Titelfigur im Libretto
Weitere Vorstellungen: . u. . Mai; www.theater-nordhausen.de