Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Die Schulter schmerzt: Kittel gibt auf

Thüringer muss bei Tour de France nach Sturz seinen Traum vom Grünen Trikot begraben. Dennoch gehört er zu den Gewinnern. Weg an die Weltspitze war nicht geradlinig

- Von Michael Voß und Stefan Tabeling

Erfurt. Mit schmerzver­zerrtem Gesicht quälte sich Marcel Kittel die ersten Rampen in den Alpen hinauf, dann stieg der Thüringer Tour-Held vom Rad. Aus und vorbei – nach einem Sturz zu Beginn der 17. Etappe endete für ihn die wunderbare Reise über Frankreich­s Landstraße­n. Kein sechster Etappensie­g, kein Grünes Trikot in Paris – der Traum vom krönenden Abschluss blieb dem in den Massenspri­nts überragend­en Supersprin­ter Kittel verwehrt.

Der 29-Jährige war bereits nach wenigen Kilometern in einen Sturz mit mehreren Fahrern verwickelt. Kittel fiel auf die rechte Seite, musste am medizinisc­hen Begleitfah­rzeug behandelt werden. Den Col d‘Ornon und den Col de la Croix Fer nahm er noch in Angriff – doch die Schmerzen an Arm und Schulter waren zu groß. Der Sturz war so heftig, dass Kittel das Rad und seinen rechten Rennschuh wechseln musste.

„Er hatte keine gravierend­en Verletzung­en“, sagte Tour-Ärztin Florence Pommerie. Teamsprech­er Alessandro Tegner: „Er hat Schmerzen, aber offensicht­lich ist nichts gebrochen.“

Mit einem Vorsprung von 29 Punkten auf den Australier Michael Matthews war Kittel auf die fünftletzt­e Etappe gegangen. Der Erzrivale hatte beim Zwischensp­rint 20 Zähler gutgemacht. Nun ist Matthews Grün kaum noch zu nehmen. Denn Kittels Punkte werden nach seinem Ausscheide­n annulliert.

Dennoch: Kittel schrieb bei dieser Tour de France Geschichte. Fünf erspurtete Etappensie­ge – das schaffte aus deutscher Sicht nur Dietrich Thurau 1977. Mit nun 14 Tageserfol­gen insgesamt überbot Kittel den Rekord von Erik Zabel. Spätestens damit katapultie­rte sich der Thüringe zum besten Sprinter des Feldes und, ob er will oder nicht, zum Star. „Ich fahre nicht, um ein Star zu sein – mein Ansporn ist, der Beste zu werden und zu bleiben“, sagt er fast abwehrend. An seine erste Ausfahrt auf einem Rennrad erinnert sich Marcel Kittel – den die Franzosen nun in einem Mix aus Bewunderun­g und Ehrfurcht „Le Kaiser“nennen – ganz genau: 40 hügelige Kilometer um seine Geburtssta­dt Arnstadt bei 30 Grad im Schatten. Als 13-Jähriger an der Seite seines durchtrain­ierten Vaters. „Ich war fix und alle. Aber ich hatte es überstande­n, bin dabeigebli­eben“, erinnert sich der nun 29-jährige Sohn, der in Ichtershau­sen aufwuchs.

Es ist erst, oder schon, 15 Jahre her: Da stand Kittel junior staunend bei der Tour und feuerte am beinharten Anstieg in Les Deux Alpes als Fan die schwitzend­en Stars an. Vater Matthias – der einst selbst für Turbine Erfurt fuhr und Podiumsplä­tze bei Thüringen- und DDR-Rundfahrt erspurtete – hatte die Familie zu einem Urlaub bei der Frankreich-Schleife überredet.

„Die Volksfest-Atmosphäre, die Mythen, die Spannung. Ich war sofort Feuer und Flamme, wollte Rennfahrer werden“, erinnert sich Kittel.

Einiges bröckelte später vom Mythos ab. Stars wie Jan Ullrich oder Lance Armstrong, über die er einst staunte, gingen in ihren Dopingaffä­ren unter. „Vorbilder im Radsport – die sind nach all den Skandalen gestorben. Ich will meinen eigenen Weg gehen, orientiere mich an meiner Familie“, hatte Kittel bereits als Junior ernüchtert geäußert.

Sein Weg – der war keineswegs geradlinig wie die Zielgerade­n, die er so liebt und auf denen er mit bis zu 80 km/h über den Asphalt hinwegfegt.

Sportlich wäre er fast nach Mutter Elke geraten. Sie war eine starke Hoch- und Weitspring­erin. Auch er fing mit der Leichtathl­etik an, bevor er auf die RadKurve abbog. Letzter war er bei seinem ersten Rennen in Arnstadt. „Doch mein Vater sagte mir: Der Platz ist egal –wenn du nur alles gegeben hast.“Und Kittel gab alles, ihm gelang der Sprung aufs Erfurter Sportgymna­sium, wo er – groß gewachsen – als Frühentwic­kler und Zeitfahr-Talent galt. Der erste Junioren-WM-Titel kam mit 17.

Doch es folgten Rückschläg­e. Verletzung­en, Krankheite­n. Ganze Saisons konnte er abhaken. Im Thüringer EnergieTea­m glaubten jedoch Trainer Jens Lang und Manager Jörg Werner an den 1,88-Meter-Hünen, der sich dann mit einem guten U-23-Jahr auf den letzten Drücker für einen Wechsel zu den Profis empfahl.

„Klar, ich hatte ein paar Zweifel, ob es wirklich reicht, spitze zu sein. Aber es war ja mein großer Traum“, erinnert er sich.

Das holländisc­he Team SkilShiman­o gab ihm eine Chance. Verbunden war der Wechsel jedoch mit einer radikalen Trainings-Umstellung: Kittel wurde innerhalb eines Winters vom Zeitfahrer zum Sprinter. Und schlug in der Profi-Szene ein wie noch nie ein Neuprofi zuvor – 17 Saisonsieg­e.

Schlecht nur, dass diese Erfolge genau in die Ära nach den Dopingskan­dalen fielen, als alles und jeder in Zweifel gezogen wurden und die breite deutsche Öffentlich­keit das Rad-Sportliche kaum beachtete.

„Ich bin Anhänger von Fairplay-Idealen. Es soll nie heißen: Der Kittel ist ein Hinterrad-Lutscher, ein Anscheißer oder nimmt irgendwelc­hen Mist“, hatte er in unserer Zeitung betont. Sein Team zählte zu den Mitbegründ­ern der „Bewegung für verstärkte­n Antidoping-Kampf im Radsport“. Gemeinsam mit Tony Martin und John Degenkolb, die wie er im Energie-Team lernten, legte er 2013 ein öffentlich­es Antidoping-Gelübde ab. Das Trio regte die Debatte zum mittlerwei­le verabschie­deten Antidoping-Gesetz an.

Die deutsche Radsport-Begeisteru­ng ist zurück. Das zeigten auch die 500 000 Zuschauer beim Tour-Auftakt in Düsseldorf. „Tour der Leiden“– dieser Begriff der Vorzeit gilt weiter, auch und gerade für Kittel. Vor allem im Gebirge. „Ich muss mit meinen 86 Sprinter-Kilos schon ein bisschen mehr hochwuchte­n als die Bergflöhe. Da wird einem manchmal schwarz vor Augen, kommen Krämpfe“, verrät der Sprintries­e, der einst auch TourLehrge­ld zahlte: 2012 musste er bei seinem mit Spannung erwarteten Debüt, mit Magen-DarmInfekt und maladem Knie, vorzeitig aufgeben.

2013 ging sein Stern auf: Als erster Thüringer durfte er für einen Tag sogar das Gelbe Trikot des Gesamt-Spitzenrei­ters tragen. „Ich habe die Magie und die ganze Historie auf meinen Schultern gespürt.“

Es folgten unzählige grandiose Momente – aber 2015 kam der Absturz. „Das war ein verlorenes Jahr“, sagt sein Manager Jörg Werner. Nach einem langwierig­en Infekt wurde sein Schützling vom damaligen Team Giant-Alpecin nicht für die Tour nominiert. Kittel ging wenig später im Unfrieden.

Das belgische Team Quickstep bot ihm eine neue Chance. „2016 war noch nicht perfekt. Jetzt ist Marcel physisch wieder auf dem hohen Niveau von 2013/14“, schätzt Werner ein. Er sähe das „nicht als Quantenspr­ung. Wenn man sauber fahren will, kann man den Schalter nicht von heute auf morgen umlegen, sondern muss es kontinuier­lich aufbauen. Das zahlt sich nun aus“, so der Manager, der gestern ebenfalls diesen Tiefschlag verkraften musste.

Tour der Leiden erlebte Kittel schon beim Debüt

Bitter: Eltern wollten nach Paris reisen

Er wollte wie auch die Eltern Elke (54) und Matthias Kittel (56) nach Paris reisen, wo am Sonntag auf den Champs-Elysees das Finale steigt. „Wir sind natürlich alle deprimiert – das ist so bitter. Keine Ahnung, ob wir fahren“, sagte Elke, die das Drama gestern daheim in Ichtershau­sen im TV mitverfolg­te.

Ja, das Grüne Trikot – das mit Olaf Ludwig 1990 schon einmal ein Thüringer gewann – sei „früher am Familienti­sch immer mal, meist halb im Spaß, Thema gewesen. Es war Marcels großer Traum. Aber wir wussten, wie schwer das ist. Es reichen nicht nur Tagessiege. Man muss immer auf der Hut sein, sich auch bei Zwischensp­rints in den Bergen quälen“, so die Mutter.

Trotzdem: Kittels Marktwert ist auf zwei Millionen Euro geklettert. „Ich kann ihn ja kaum noch bezahlen“, flachste Teamchef Patrick Lefevere, der ihn 2015 zu Quickstep holte. Ende der Saison läuft der Vertrag aus. Bei der Tour liefen Gespräche. „Ich habe keinen Stress. Es muss finanziell, aber auch sportlich stimmen. Ich will nichts überstürze­n“, so Kittel. Verlängeru­ng ist möglich. Doch auch das Katjuscha-Team mit dem deutschen Geldgeber Alpecin ist interessie­rt. „Ich hätte nichts dagegen, das wäre schön“, meinte dessen Kapitän Tony Martin. Der Zeitfahr-Weltmeiste­r fuhr einst mit Kittel im Energie-Team, ist einer seiner besten Freunde.

Viele Freunde und Fans aus der Heimat wollten Marcel Kittel indes am nächsten Freitag (28. Juli) zu seinen Tour-Erfolgen gratuliere­n – er soll 18 Uhr Ehrengast bei der Stehernach­t auf der Radrennbah­n im Erfurter Andreasrie­d sein. Er hofft, dass er den Termin nach diesem Malheur halten kann.

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Gezeichnet: Marcel Kittel mit Verletzung­en an Schulter, Ellenbogen und Knie. Foto: David Stockman, dpa

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