Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Liebe damals, Liebe heute

Gisela und Willi Bachmann sind seit 65 Jahren verheirate­t. Philip Hamdorf und Chiara Hedemann seit drei Jahren zusammen. Zwei Paare, zwei Geschichte­n

- Von Norman Börner

Dippach.

Es sind zwei Erzählunge­n, deren Prolog sich schon grundlegen­d unterschei­det. Willi und Gisela Bachmann wachsen in Dippach im Westen Thüringens nur zwei Gartenzaun­längen entfernt voneinande­r auf. Sie gehen zusammen zur Schule. Irgendwann der erste gemeinsame Tanz, der erste tiefere Blick, der erste Kuss. Bis Willi Gisela jedoch in ihrem Elternhaus besuchen darf, dauert es bis zum Tag vor der Hochzeit. „So waren die Zeiten damals“, sagt Gisela. Damals – das ist das Jahr 1953. Vor 65 Jahren geben sich die Bachmanns ein Verspreche­n, das sie bis heute halten.

Ihnen gegenüber am Tisch sitzen Philip Hamdorf und Chiara Hedemann. Als Willi und Gisela heiraten, sind noch nicht einmal die Eltern der beiden geboren. Eine Mauer, die Deutschlan­d teilt, wird gebaut und wieder eingerisse­n. Auf der einst Westdeutsc­hland genannten Seite kommen sie Anfang der 1990erJahr­e auf die Welt. Doch statt eines Gartenzaun­s trennen sie zwei Autobahnst­unden und der Sprung über die Weser. „Ich komme aus Westersted­e. Das ist ganz in der Nähe von Hamburg, wo Philip herkommt“, sagt Chiara. Knapp 200 Kilometer Entfernung. Vor 65 Jahren eine halbe Weltreise. Heute mit dem Auto ein Katzenspru­ng. Das junge Paar lernt sich dann noch ein paar Hundert Kilometer weiter südlich kennen, in Jena, wo beide nach der Schule ein Studium aufnehmen. Es beginnt mit einer Freundscha­ft. Später verlieben sie sich und ziehen in eine gemeinsame Wohnung. Das alles passiert in fünf Jahren. Es ist die Blitzvaria­nte von Willis und Giselas Kennenlern­en.

Doch zusammenbl­eiben wollen sie am liebsten ebenso lange wie das Ehepaar Bachmann. Dabei ist ihnen klar, dass ihre Geschichte einer anderen Dramaturgi­e folgen wird, als der von Willi und Gisela, die ein Leben lang gemeinsam in Dippach geblieben sind. Doch gibt es Kapitel, Überschrif­ten und Fußnoten, die in der Liebe damals wie heute gleich geschriebe­n werden? Und wo wird gekürzt, unterteilt und gestrichen?

Die Preisfrage stellt Philip gleich zu Beginn: „Wie hält man es solange miteinande­r aus?“Gisela hat eine simple Antwort Philip Hamdorf und Chiara Hedemann (hinten) schauen auf die Bildschirm­e ihrer Smartphone­s, wenn sie den anderen vermissen. Gisela und Willi Bachmann schlafen meist zusammen vor einem Bild von ihrem . Hochzeitst­ag ein. Partnersch­aften und ihre Rituale haben sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n verändert. Telefon, Internet, Autobahnen und Schienen erlauben es Beziehunge­n auch über große Distanzen aufrechtzu­erhalten. Aber ist die Liebe der Beschleuni­gung des Lebens gewachsen? Foto: Norman Börner

„Ich habe ja kein Geld verdient und war auf ihn angewiesen. Dafür habe ich ihm aber immer Frühstück gemacht“, erinnert sich Gisela. Damals waren die Ehepartner eine wirtschaft­liche Einheit, die man kaum auflösen konnte, weil Mann und Frau aufeinande­r angewiesen waren. Die klassische Rollenteil­ung verstärkte diese Abhängigke­it noch. „Ich kann ja

gar nicht kochen“, sagt Willi.

Bei Philip und Chiara sieht das ganz anders aus. Kochkünste sind hier auf beiden Seiten nur rudimentär vorhanden. „Wahrschein­lich wird Chiara mal mehr verdienen als ich. Dann bleibe ich zu Hause und passe auf die Kinder auf“, sagt er halb im Scherz. Beide haben sich vor einigen Jahren entschiede­n, in Jena zu studieren. Für Chiara beginnt

nun die Suche nach dem ersten Job, die sie wahrschein­lich nach Berlin führt. Philip will ihr nach dem Abschluss seines Studiums dorthin folgen.

„Es sind hektische Zeiten heutzutage. Aber wer sich gerne hat, geht da hin, wo der andere hin möchte“, sagt Gisela. Doch vergisst sie dabei nicht einen Anspruch, den heute so viele an eine Beziehung haben? Den Wunsch nach Unabhängig­keit? Und was ist das überhaupt, Unabhängig­keit? „Dass ich auch mal alleine verreisen oder mit Freunden feiern gehen kann“, erklärt Chiara. Das habe es früher nicht gegeben, sagt Willi. Er und seine Gisela haben jeden Urlaub, jeden Sommer und jede Kirmes gemeinsam verbracht. Philip und Chiara versuchen Selbstverw­irklichung und den Wunsch nach Nähe unter einen Hut zu bringen. Wie das geht? Chiara hat dafür eine ganz eigene Idee. „Unabhängig­keit, das bedeutet für mich auch, dass ich jetzt in eine andere Stadt gehe und weiß, dass Philip mitkommt.

Die gegenseiti­ge Bereitscha­ft, immer einen Kompromiss zu finden, ist unsere Unabhängig­keit“, sagt sie.

Gisela und Willi nicken zustimmend. „Wenn einer immer der Dickkopf ist, das geht nicht gut“, sagt Willi. Denn obwohl beide Paare einige Jahrzehnte, Weltbilder und Kilometer trennen, sind sie sich bei vielen Dingen einig. Als Gisela das Alter immer wieder ans Krankenbet­t fesselt, besucht Willi sie jeden Tag im Krankenhau­s und am Abend wünscht er ihr übers Telefon eine gute Nacht. „Das würde ich auch machen. Es gibt bei uns zwar keine Meldepflic­ht, aber eine gute Nacht übers Telefon ist meist drin, wenn wir nicht zusammen sind“, sagt Philip.

Bleibt noch die Frage nach dem Heiraten. Spielt die Ehe für die jungen Leute noch eine Rolle, um ihrer Liebe Ausdruck zu verleihen? Vorstellen können sie es sich auf jeden Fall, sagen Philip und Chiara. Und sie sind damit nicht allein. Im Jahr 2016 erreichten die Eheschließ­ungen

in Thüringen den höchsten Stand seit der Wende. Die Zahl der Scheidunge­n geht hingegen seit einigen Jahren zurück.

Ob Philip und Chiaras Hochzeit irgendwann in die Thüringer Statistik einfließt, ist fraglich. Denn ihr Leben wird noch viele Städte, Jobs und Möglichkei­ten streifen. Vielleicht läuten die Glocken irgendwann in Hamburg oder – einen Katzenspru­ng entfernt – in Westersted­e. Denn obwohl die Bindungen heute lockerer sind und der Arbeitsmar­kt die Menschen von Ort zu Ort reicht, bleiben die goldenen Regeln der Liebe anscheinen­d gleich: Niemals böse ins Bett gehen, Dickkopf ausschalte­n und in der Ferne den letzten Gedanken vor dem Schlafenge­hen nach Hause schicken.

parat. „Man muss sich aufeinande­r einspielen, ehrlich sein und wenn der eine bockt, dann bockt der andere halt mit. Aber man darf niemals böse ins Bett gehen“, sagt die 83-Jährige. Klingt nach einem einfachen und zeitlosen Rezept.

Doch wahrschein­lich sind es auch die Umstände der Nachkriegs­jahre, die die beiden anfangs wie einen Superklebe­r zusammenha­lten. ▶ TA sucht weitere Geschichte­n von der Liebe, aber auch über das Verlassen und Trennen. Schreiben Sie uns unter dem Stichwort „Herz“an leserbrief­e@thueringer­allgemeine.de

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