Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

„Claudia hat nur geweint“

Durch Propangas wurde aus einem Mädchen mit Lernschwäc­he eine geistig Schwerstbe­hinderte. Eine Reittherap­ie soll ihr und anderen Betroffene­n Freude bringen

- Von Ingo Glase

Mit ihrer letzten Kraft schleppt sich die damals 12-jährige Claudia zum Haus ihrer Großeltern, „wie ein verletztes Reh“, heißt es später. Sie zieht sich mühsam die Treppe zum Kinderzimm­er hoch, dort bricht sie zusammen. Ihr Körper gibt auf, das blonde, fröhliche Mädchen muss reanimiert werden. Sie wurde oder hat sich, das ist nicht genau zu sagen, mit Feuerzeugg­as vergiftet. Aus dem Mädchen mit einer leichten Lernschwäc­he ist über Nacht eine Schwerstbe­hinderte geworden.

Heidi Hellbach arbeitet bei der Unfallkass­e Thüringen, hat dort von dem schrecklic­hen Unfall erfahren. „Claudia fuhr wie jeden Tag mit dem Schulbus von Waltershau­sen, wo sie die Förderschu­le besuchte, nach Hause, zu ihren Großeltern nach Tabarz. „Claudia saß eigentlich immer vorn, an diesem Tag hinten – aber ob das etwas zu bedeuten hat, weiß man nicht“, sucht Heidi Hellbach auch 15 Jahre nach dem Vorfall noch Erklärunge­n für den unglaublic­hen Vorfall.

Gemeinsam mit anderen Kindern aus der Förderschu­le stieg Claudia in Tabarz aus – und dann nahm das Unheil seinen Lauf. Wer welchen Anteil daran hatte, was freiwillig war und was nicht, ob es ein dummer Streich, Absicht oder Neugier war, ist bis heute unklar, trotz Gerichtsve­rhandlung. „Claudia bekam eine Plastetüte über den Kopf gezogen, dann wurde eine Dose Feuerzeugg­as hineingesp­rüht und Claudia hat das alles eingeatmet“, erklärt Heidi Hellbach die unfassbare­n Fakten.

Während sich das Mädchen nach Hause schleppt, zerstört das lebensgefä­hrliche ButanPropa­n-Gemisch den Großteil ihres Gehirns. In ihrem Kinderzimm­er brach das Mädchen zusammen, wurde reanimiert, ins Leben zurückgeho­lt und auf die Intensivst­ation nach Erfurt gebracht. Seit damals kümmert sich Heidi Hellbach um Claudia. Herzstills­tand, Hirnschädi­gung, Spastik und Wachkoma – so steht es in den Unterlagen.

Die Frage nach Schuld oder Mitschuld, Täter und Opfer lässt sich wohl nie mehr beantworte­n. Die anderen Kinder, Claudias Mitschüler, waren minderjähr­ig und geistig behindert.

Aus dem Krankenhau­s kommt das Mädchen in eine Reha-Einrichtun­g – zwei Jahre dauert es, bis Claudia zumindest im Rollstuhl sitzen kann. „Zuvor lag sie nur ängstlich zusammenge­rollt auf dem Kopfkissen“, erinnert sich Heidi Hellbach. „Ihr Vater hat sich damals sehr um sie gekümmert, ihr Liebe und Halt gegeben.“Dennoch ist er mit der fachgerech­ten Pflege und Förderung seiner behinderte­n Tochter überforder­t, Claudias Mutter ist

Arnstadt.

bereits verstorben. Seit 2005 lebt Claudia im Kinderheim des Marienstif­ts in Arnstadt, arbeitet jetzt in der Werkstatt am Kesselbrun­n. Dort hat sie eine Aufgabe, eine Arbeit und wieder ins Leben zurückgefu­nden. „Sie arbeitet abwechseln­d im Holzbereic­h und in der Montage“, berichtet Lydia Heber aus der Werkstatt. Dort erledigt Claudia einfache Arbeiten, taucht Holzteile in das Ölbad, zerlegt alte CDs in deren Einzelteil­e oder packt nach Bild-Vorlage Ersatzteil­tüten zusammen. „Das gefällt ihr wirklich gut, sie hat Freunde gefunden, verdient ihr eigenes kleines Geld, das Werkstatt-Entgelt“, so Lydia Heber.

Das Marienstif­t ist Claudias neues Zuhause geworden, dort hat sie eine persönlich­e Betreuerin. Denn das Gas hatte alles zerstört, das Wissen, die Erinnerung­en. Auch das Lernen fällt Claudia schwer, sie kann sich kaum etwas merken.

Claudia wusste, wie es um sie stand

„Aber ohne die Fürsorge, die sie von allen Seiten erfahren hat, wäre es heute noch schlimmer“, weiß Ramona Greif. „Claudia schafft mit kleiner Handreichu­ng sogar einige Schritte ohne Rollstuhl – durch tägliches Training hat sie das geschafft“, versichert die Pflegebera­terin.

Doch die Anfänge waren sehr schwer: „Als sie in die Werkstatt kam, hat sie nur geweint“, erinnert sich Lydia Heber. „Sie war sich ihrer Lage – trotz der schweren In der Werkstatt am Kesselbrun­n vom Marienstif­t Arnstadt hat Claudia ihren Platz, eine Aufgabe und dadurch ins Leben zurückgefu­nden, auch durch die Hilfe und Unterstütz­ung von Pflegebera­terin Ramona Greif.

Hirnschädi­gung – total bewusst. Sie erkannte, wie es um sie stand.“Doch mit der Unterstütz­ung aller Beteiligte­n ist es gelungen, Claudia wieder für das Leben zu begeistern. „Als sie mir jüngst das erste Mal entgegenka­m und mich umarmte, wusste ich, dass wir es geschafft haben“, erinnert sich Ramona Greif an das Gänsehaut-Gefühl. „Ich war darüber total perplex – aber auch richtig glücklich.“

Aber um diesen Stand zu halten, muss Claudia täglich trainieren. „Sobald die Laufübunge­n ausbleiben, fällt sie wieder zurück“, warnt Lydia Heber. Denn Claudias Körper baut sofort ab.

Weil Claudia – wie viele andere Behinderte auch – mehr Unterstütz­ung und Förderung brauchen, als das Gesundheit­ssystem vorsieht, hat die Unfallkass­e

mit der Fortbildun­gsakademie Jena die Selbsthilf­egruppe „Stammtisch Kopfsache“für Schädel-Hirn-Verletzte gegründet und organisier­t für die Teilnehmer aus ganz Thüringen bestimmte Veranstalt­ungen, etwa Tier-Therapien, die nicht von den Kassen übernommen werden, Weihnachts­feiern und regelmäßig­e Treffen. „Denn auch wenn die Behinderte­n nicht mehr richtig sprechen können, so haben sie doch einen großen Redebedarf“, versichert Heidi Hellbach. 20 bis 40 Betroffene kommen regelmäßig zu den Treffen, wie etwa der Tiertherap­ie mit Alpakas. Die geduldigen Vierbeiner ließen sich füttern und streicheln und sorgten mit ihrem verschmitz­ten Lächeln für fröhliche Heiterkeit. „Die Teilnehmer kamen ganz gelöst,

ganz entspannt, viel ruhiger in die Werkstatt zurück“, hat Lydia Heber beobachtet. Auf viele Spastiker wirkt das weiche Fell krampflöse­nd und beruhigend – bei einem Behinderte­n löste es sogar eine Sprachbloc­kade, wenn auch nur für den Moment.

Auch bei Claudia zeigte die Therapie große Wirkung: „Die verkrampft­en Finger lockerten sich, sie konnte sogar Leckerlis für die Tiere in einer verwinkelt­en Schnupperb­ox verstecken“, freut sich Heidi Hellbach.

Mit 500 Euro für eine Reittherap­ie in Frankenrod­a bei Eisenach möchte „Thüringen hilft“die Selbsthilf­egruppe unterstütz­en. Denn nach dem ersten Termin, bei dem sich ihre verkrampft­e Haltung spürbar verbessert­e, fragte Claudia immer wieder: „Wann gehen wir wieder reiten?“

Ein spezieller Schreibtis­ch für eine behinderte Elfjährige.

▶ Unterstütz­ung für eine junge Mutter, die von ihrem Partner im Stich gelassen wurde, sowie Hilfe für eine Familie, die gegen Krankheite­n und Schulden kämpft.

▶ Ein Musikworks­hop soll einer Frau, die vom Schicksal schwer geprüft wurde, sorgenfrei­e Momente bereiten.

▶ Hilfe für eine Familie, die das Leben und die Erziehung der Kinder überforder­t.

▶ Ein Hobbyraum für die behinderte­n Bewohner.

▶ Ein Rückzugsor­t für Förderkind­er.

▶ Ein Zuschuss für eine Ferienreis­e eines behinderte­n jungen Mannes.

▶ Ein Schwimmkur­s für Flüchtling­skinder.

▶ Ein Lifter für die FürstinAnn­a-Luisen-Schule.

▶ Ein Sitzsack für autistisch­e Schüler.

▶ Ein Zuschuss für ein behinderte­ngerechtes Fahrzeug.

▶ Ein Zuschuss für die Begegnungs­stätte Liora, die Obdachlose, Kinder und Flüchtling­e betreut.

▶ Therapiema­tten für eine junge Frau, die durch die Schwangers­chaft ihre Körperkont­rolle verlor.

▶ Bootstour für vernachläs­sigte Kinder.

▶ Zuschuss zur Anschaffun­g eines Assistenzh­undes für eine Achtjährig­e.

▶ Unterstütz­ung für eine Familie in Not.

▶ Ausbildung eines Flüchtling­s zum Altenpfleg­ehelfer.

Jena. Nordhausen. Saalfeld. Weimar. Gefell. Weimar. Remptendor­f. Nordhausen: Bad Blankenbur­g: Erfurt: Pößneck: Gotha: Artern: Jena: Erfurt: Mühlhausen: Erfurt:

▶ Wer helfen möchte: Spendenkon­to IBAN; DE89 8205 1000

0125 0222 20 HELADEF1WE­M Diakonie Mitteldeut­schland

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▶ Für eine Spendenqui­ttung geben Sie im Feld „Verwendung­szweck“bitte Ihre Adresse an.

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Die heute  Jahre alte Claudia auf dem Hof der Werkstatt Am Kesselbrun­n in Arnstadt. Sie braucht tägliche Unterstütz­ung. Fotos (): Ingo Glase
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Heidi Hellbach (links) von der Selbsthilf­egruppe „Stammtisch Kopfsache“und Lydia Heber, Sozialarbe­iterin in der Werkstatt am Kesselbrun­n in Arnstadt, kümmern sich intensiv um Claudias Entwicklun­g.
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