Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Das klare Wort der Schrift
Es war ein Schnäppchen. Ich kann das Wort nicht leiden, aber das war es wirklich. Mein ganzes Leben, mein ganzes Ich für 7 Euro. Ich hatte den Stand schon mehrfach gesehen, jedes Jahr ist er dort bei diesem Volksfest. Diesmal wollte ich mich trauen. Obwohl ich diesem Kram eigentlich nicht traue. Analyse der Persönlichkeit aufgrund der Handschrift, die bei mir so ziemlich unleserlich ist. Und ein Handlesen gleich dazu, wie gesagt, im Paket für 7 Euro. Andere geben eine Menge Geld auf der Couch aus, immer auf das „Erkenne dich selbst“hoffend. Dieser verlockende Imperativ stand an Apollos Tempel in Delphi, und dort, wie man weiß, wurde allerlei Unheil orakelt. In Betrachtung meiner Handschrift wurde ausschließlich Unheil orakelt.
Frau Brucha zum Beispiel, die gütige Klassenlehrerin der 3b, erklärte liebevoll, es würde für mich immer sehr, sehr schwer sein mit dieser Schrift, und bot mir die unglaubliche Summe von 50 Mark, falls es mir gelänge, in Schönschreiben, so hieß das damals, eine Zwei zu erreichen. Grundgütig wie ich bin, brachte ich es nicht übers Herz Frau Brucha um die beträchtliche Summe zu erleichtern.
Die Schrift hat mir auch das beinahe Einzige versaut, was in der Schule Spaß machte, die Aufsätze. Inhalt, Ausdruck 1, Rechtschreibung 2, Form 5, Gesamtnote 3. In der 10. Klasse gab es für den Prüfungsaufsatz eine 5. Frau Lasar hielt ihn für den vermutlich besten Prüfungsaufsatz, der je eingereicht wurde in der POS 1. Herr Vollgold, der Zweitkorrektor, hielt ihn aus pädagogischen Erwägungen für unleserlich – und er war der stellvertretende Direktor und vermutlich ungeeignet, um die Qualität der DDR-Pädagogik zu exemplifizieren.
Herr Z., Berufsschule, Klasse Drucker/Setzer 1, hielt auch nicht viel von meiner Schreiberei. „Sie glauben wohl“, sagte er einmal strenge, und es war keine Frage, „weil Sie in Deutsch eine Zwei haben, davon einmal leben zu können!“Als ich mit „ja“antwortete und im Übrigen erklärte, dass diese Zwei eine Ungerechtigkeit sei, da zeichnete sich deutlich ab, dass wir beide meine Perspektive nicht in der volkseigenen Druckindustrie sahen, was im Übrigen für beide eine Erleichterung war.
Als ich dann doch vom Schreiben leben konnte, es war die Zeit des Bleisatzes, liebe Kinder, da kam ein Setzer zu mir, sehr eindringlich. So und so, er und seine Kollegen arbeiteten hier im Akkord und meine handschriftlichen Korrekturen auf den Druckfahnen würden ihnen den Broterwerb erschweren.
Oder Hotels. Hotels sind das Schlimmste. Wenn die Dame dabei ist, dann füllt sie, schweigend und lächelnd, das Anmeldeformular aus. Wenn ich alleine unterwegs war, dann hatte ich immer das Gefühl, sie denken, dem sein Sozialarbeiter ist bestimmt stolz auf den Erfolg. Jedenfalls haben sie mich an der Rezeption manchmal so angeschaut. Na ja, wenn er zahlt, soll‘s mir egal sein, Kunde ist Kunde und die Wasserspülung wird er ja wohl kennen. Alles so was.
Und doch liebe ich, merkwürdig genug, Kugelschreiber und Füller. Keinen Billigkram, den jeder jedem im Büro klaut, richtig gute. Mit einem Füller über ein Blatt Papier, das wiederum auf einer festen Unterlage liegt, das ist ein sinnliches Vergnügen. Allerdings, wenn ich dann damit schreibe, dann kann das wirklich keine Sau lesen, der Handschrift wegen. Ohne die Erfindung der Schreibmaschine und des Computers hätte ich richtig arbeiten müssen. Vermutlich geht es mir mit dem Schreibgerät wie vielen Männern, die mögen, was sie nicht richtig können. Bevor ich eine Fahrerlaubnis besaß, träumte ich manchmal angstvoll, ich säße in einem Auto links vorn.
In der Summe dieses Lebens also brauchte ich letztens all meinen jungen Mut und einen mehrjährigen Anlauf, um meine Handschrift bei dem erwähnten Schrift-Schnäppchen analysieren zu lassen. Das unternahm allerdings nicht die würdige Frau an diesem Marktstand, sie hatte einen kleinen Computer dafür. Unterschrift, ruck, zuck, scannen, drei Tasten, drucken. Und? Alles bestens, alles positiv, das Programm bietet Zufriedenheit für jeden Kunden.
Ich habe eine großzügige Art, eine zugängliche Wesensart, ein tiefes Innenleben sowie ein exzellentes Denkvermögen, meine Bescheidenheit verbietet mir das exakte Zitat. Seit diesem Tag glaube ich unerschütterlich an die Grafologie als eine exakte Wissenschaft.
Nur bei der Analyse meiner Handlinien muss etwas falsch gelaufen sein. Der Computer attestierte mir „Quirligkeit“, die „für einige Mitmenschen schon sehr anstrengend sein“kann, im Übrigen stürze ich mich „wie ein Wirbelwind in die Aktivität“. Die Dame kicherte – und ich verstand: Das Programm hatte mich verwechselt mit einer sehr, sehr nahen Verwandten.