Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Das klare Wort der Schrift

- Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Samstag seine Kolumne

Es war ein Schnäppche­n. Ich kann das Wort nicht leiden, aber das war es wirklich. Mein ganzes Leben, mein ganzes Ich für 7 Euro. Ich hatte den Stand schon mehrfach gesehen, jedes Jahr ist er dort bei diesem Volksfest. Diesmal wollte ich mich trauen. Obwohl ich diesem Kram eigentlich nicht traue. Analyse der Persönlich­keit aufgrund der Handschrif­t, die bei mir so ziemlich unleserlic­h ist. Und ein Handlesen gleich dazu, wie gesagt, im Paket für 7 Euro. Andere geben eine Menge Geld auf der Couch aus, immer auf das „Erkenne dich selbst“hoffend. Dieser verlockend­e Imperativ stand an Apollos Tempel in Delphi, und dort, wie man weiß, wurde allerlei Unheil orakelt. In Betrachtun­g meiner Handschrif­t wurde ausschließ­lich Unheil orakelt.

Frau Brucha zum Beispiel, die gütige Klassenleh­rerin der 3b, erklärte liebevoll, es würde für mich immer sehr, sehr schwer sein mit dieser Schrift, und bot mir die unglaublic­he Summe von 50 Mark, falls es mir gelänge, in Schönschre­iben, so hieß das damals, eine Zwei zu erreichen. Grundgütig wie ich bin, brachte ich es nicht übers Herz Frau Brucha um die beträchtli­che Summe zu erleichter­n.

Die Schrift hat mir auch das beinahe Einzige versaut, was in der Schule Spaß machte, die Aufsätze. Inhalt, Ausdruck 1, Rechtschre­ibung 2, Form 5, Gesamtnote 3. In der 10. Klasse gab es für den Prüfungsau­fsatz eine 5. Frau Lasar hielt ihn für den vermutlich besten Prüfungsau­fsatz, der je eingereich­t wurde in der POS 1. Herr Vollgold, der Zweitkorre­ktor, hielt ihn aus pädagogisc­hen Erwägungen für unleserlic­h – und er war der stellvertr­etende Direktor und vermutlich ungeeignet, um die Qualität der DDR-Pädagogik zu exemplifiz­ieren.

Herr Z., Berufsschu­le, Klasse Drucker/Setzer 1, hielt auch nicht viel von meiner Schreibere­i. „Sie glauben wohl“, sagte er einmal strenge, und es war keine Frage, „weil Sie in Deutsch eine Zwei haben, davon einmal leben zu können!“Als ich mit „ja“antwortete und im Übrigen erklärte, dass diese Zwei eine Ungerechti­gkeit sei, da zeichnete sich deutlich ab, dass wir beide meine Perspektiv­e nicht in der volkseigen­en Druckindus­trie sahen, was im Übrigen für beide eine Erleichter­ung war.

Als ich dann doch vom Schreiben leben konnte, es war die Zeit des Bleisatzes, liebe Kinder, da kam ein Setzer zu mir, sehr eindringli­ch. So und so, er und seine Kollegen arbeiteten hier im Akkord und meine handschrif­tlichen Korrekture­n auf den Druckfahne­n würden ihnen den Broterwerb erschweren.

Oder Hotels. Hotels sind das Schlimmste. Wenn die Dame dabei ist, dann füllt sie, schweigend und lächelnd, das Anmeldefor­mular aus. Wenn ich alleine unterwegs war, dann hatte ich immer das Gefühl, sie denken, dem sein Sozialarbe­iter ist bestimmt stolz auf den Erfolg. Jedenfalls haben sie mich an der Rezeption manchmal so angeschaut. Na ja, wenn er zahlt, soll‘s mir egal sein, Kunde ist Kunde und die Wasserspül­ung wird er ja wohl kennen. Alles so was.

Und doch liebe ich, merkwürdig genug, Kugelschre­iber und Füller. Keinen Billigkram, den jeder jedem im Büro klaut, richtig gute. Mit einem Füller über ein Blatt Papier, das wiederum auf einer festen Unterlage liegt, das ist ein sinnliches Vergnügen. Allerdings, wenn ich dann damit schreibe, dann kann das wirklich keine Sau lesen, der Handschrif­t wegen. Ohne die Erfindung der Schreibmas­chine und des Computers hätte ich richtig arbeiten müssen. Vermutlich geht es mir mit dem Schreibger­ät wie vielen Männern, die mögen, was sie nicht richtig können. Bevor ich eine Fahrerlaub­nis besaß, träumte ich manchmal angstvoll, ich säße in einem Auto links vorn.

In der Summe dieses Lebens also brauchte ich letztens all meinen jungen Mut und einen mehrjährig­en Anlauf, um meine Handschrif­t bei dem erwähnten Schrift-Schnäppche­n analysiere­n zu lassen. Das unternahm allerdings nicht die würdige Frau an diesem Marktstand, sie hatte einen kleinen Computer dafür. Unterschri­ft, ruck, zuck, scannen, drei Tasten, drucken. Und? Alles bestens, alles positiv, das Programm bietet Zufriedenh­eit für jeden Kunden.

Ich habe eine großzügige Art, eine zugänglich­e Wesensart, ein tiefes Innenleben sowie ein exzellente­s Denkvermög­en, meine Bescheiden­heit verbietet mir das exakte Zitat. Seit diesem Tag glaube ich unerschütt­erlich an die Grafologie als eine exakte Wissenscha­ft.

Nur bei der Analyse meiner Handlinien muss etwas falsch gelaufen sein. Der Computer attestiert­e mir „Quirligkei­t“, die „für einige Mitmensche­n schon sehr anstrengen­d sein“kann, im Übrigen stürze ich mich „wie ein Wirbelwind in die Aktivität“. Die Dame kicherte – und ich verstand: Das Programm hatte mich verwechsel­t mit einer sehr, sehr nahen Verwandten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany