Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Damals wie heute ein Sonnyboy
Seit Mitte der Neunziger interessiere ich, Baujahr 1986, mich für Sport. Gebannt bestaunte ich die Basketballkünste von Michael Jordan, Detlef Schrempf und dem jungen Shaquille O‘Neal bei „Inside NBA“mit Kult-Moderator Frank Buschmann. Jubelnd riss ich im Ferienlager die Arme hoch, als Deutschland 1996 die Fußball-EM per Golden Goal gewann. Jede „BRAVO Sport“verschlang ich und wurde zum Borussia-Dortmund-Fan.
In jenem Jahr schaute ich auch zum ersten Mal die Tour de France, als der junge „Kronprinz“Jan Ullrich eigentlich schon besser war als sein Mannschaftskapitän Bjarne Riis, dem Dänen aber zum Toursieg verhelfen musste. Ein Jahr später erreichte Ullrich Paris als erster Deutscher im gelben Siegertrikot. Auch wenn sowohl Riis als auch Ullrich inzwischen des Dopings überführt wurden, hat sich die Faszination der „großen Schleife“bei mir erhalten, habe ich seitdem kaum eine Bergetappe verpasst.
Heute verpasse ich kaum eine Sprintankunft. Und das liegt an einem jungen Mann, der mir in der dritten Klasse zum ersten Mal über den Weg gelaufen ist. Marcel Kittel, Erstklässler an der Grundschule in unserem Heimatort Ichtershausen, war damals noch recht klein und schmächtig. Doch die blonden Haare, das Lächeln eines kalifornischen Sonnyboys und damit einen Schlag bei den Mädchen hatte er, meine ich, schon damals. Er blieb aber ein eher schüchterner Junge, auch, als wir gemeinsam mit dem Schulbus nach Arnstadt ins Gymnasium fuhren. An eine Weltkarriere als einer der erfolgreichsten und beliebtesten Radsportler war damals nicht zu denken – noch heute erzählt mir ein guter Freund bei jeder Gelegenheit stolz, dass er „Marcel Kittel im Crosslauf geschlagen“hat.
Als er vor fünf Jahren seine erste von inzwischen 14 Etappen bei der bedeutendsten Rundfahrt der Welt gewann, hatte ich ob dieser Erinnerungen Gänsehaut und musste mit dem Kopf schütteln. Schau an, der kleine, schmächtige, zurückhaltende Marcel von damals.
Bei der diesjährigen Tour de France hat es bislang noch nicht mit einem Etappensieg geklappt. Aber ich bin mir sicher, das wird es noch. Und selbst wenn nicht, bleibt er der freundliche Marcel von nebenan, der fröhlich grüßt, wenn man ihm mit dem Fahrrad in Erfurt begegnet.