Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Ein Buch – eine Familiengeschichte
Das Apoldaer Zeitzeugen-Projekt „Kinder auf der Flucht“erfragt in Israel die Schicksale jüdischer Familien im Dritten Reich
Apolda.
17 jüdische Schicksale. 17 Hefte mit den Geschichten von jüdischen Kindern, die von ihren Eltern in den 1930er-Jahren vor der antisemitischen Verfolgung in Sicherheit gebracht wurden. Erfragt und recherchiert haben sie Marion Schneider und Udo Wohlfeld von der Geschichtswerkstatt Weimar/Apolda im Verein Prager-Haus-Apolda .
Das Zeitzeugen-Projekt „Kinder auf der Flucht“bewahrt die Erinnerungen der heute hochbetagten Überlebenden. Mit jedem Jahr, jedem Monat, jedem Tag würden es weniger, die erzählen können, was ihnen und ihren Angehörigen zur Zeit des Dritten Reiches widerfuhr, sagt Udo Wohlfeld. Der Älteste der Interviewten ist 96 Jahre alt, zwei Gesprächspartner erlebten die Fertigstellung ihrer Bücher nicht mehr. Die Bücher sind O-Ton und Dokumentation in einem. Sie geben die Gespräche mit den Überlebenden wider und ergänzen sie durch Fotos und Hintergrundrecherchen zur Familiengeschichte. Zehn Bücher sind fertig, die anderen in der Entstehung. Jedes der 17 Bücher wird für das Schicksal einer jüdischen Familie stehen.
Angefangen habe alles vor gut zwei Jahren mit einem Zeitzeugen-Interview in Jena, erzählt Wohlfeld. Käthe Raphael, die auch Mitglied im Prager-Haus-Verein ist, erzählte nicht nur die Geschichte ihrer eindrucksvollen Rettung vor dem Zugriff der Nazis, sondern stellte für die Hintergrund-Recherchen auch die Verbindung zu Zeev (ursprünglich Heinz) Raphael im israelischen Haifa her. Beider Großväter waren Brüder. Der Kontakt zum Großcousin erwies sich als Fundgrube. Zeev Raphael habe nicht nur ein hervorragendes Erinnerungsvermögen, sondern auch alles Erdenkliche aus der Familiengeschichte aufgehoben – Fotos, Briefe, Erinnerungsstücke. Auf den Austausch von E-Mails folgte schließlich eine Begegnung vor Ort in Haifa, wo der 91-jährige Senior in einem Altersheim lebt. Nach und nach lernten Marion Schneider und Udo Wohlfeld dort andere Heimbewohner und über diese weitere Überlebende und deren Schicksale kennen. So nahm das Projekt schließlich seinen Lauf.
Gemeinsam ist allen Befragten, dass sie zwischen 1933 und 1939 aus Deutschland flohen, die einen mit, andere ohne ihre Eltern. Nur so konnte ihr Leben gerettet werden. Nicht selten wurden die in Deutschland gebliebenen engeren jüdischen Verwandten im Zuge des Holocaust von den Nazis ermordet. Keine der Geschichten sei wie die andere, sagt Wohlfeld. Man nahm es, wie es kam, floh in das Land, das als erstes Ausreisepapiere ausstellte oder vertraute die eigenen Kinder jüdischen Agenturen an, die ihrerseits versprachen, sich um die Rettung des Nachwuchses zu kümmern.
Auch zu Zeev Raphael gibt es inzwischen ein Buch. Geboren wurde er 1927 in Beckum. Zu der Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung lebten dort noch etwa 100 Juden, den Holocaust überstanden nur wenige. Nach Anfeindungen gegen den als Lehrer und aktiven Zionisten tätigen Vater wich Zeevs Familie nach Mitteldeutschland aus. Nach dem November-Pogrom von 1938 wurde Jakob Raphael vier Wochen lang in Buchenwald eingesperrt. Danach wollte die jüdische Familie nur noch raus aus Deutschland.
Den Interviewern erzählt Zeev Raphael, wie sein Vater schließlich nach England, seine Mutter und er aber im August 1939 nach Schweden ausreisten. Die Situation sei angespannt gewesen, der Krieg habe bereits in der Luft gelegen. Erst 1946 sah sich die Familie in England wieder, bis dahin lebten Zeev und Lilly Raphael in Schweden. 1955 gingen alle nach Israel. Zeev Raphael hatte inzwischen Maschineningenieur studiert und 1953 geheiratet. Seine Frau Alice kam aus Bergen-Belsen.
Nicht alle Familienmitglieder der Raphaels hatten so viel Glück. Das ergaben die Nachrecherchen zur Familiengeschichte, die Marion Schneider und Udo Wohlfeld zu jeder oder jedem der von ihnen Befragten machen. Im Falle von Zeev Raphael schickte Wohlfeld eine Liste mit den Namen der Angehörigen, von denen bekannt war, dass sie nach Auschwitz deportiert wurden und nicht zurückkehrten, an die Gedenkstätte in Polen. Grundsätzlich müsse von ihrem Tod im Vernichtungslager ausgegangen werden, hieß es. Immerhin ergaben die Nachfragen, dass zwei Raphaels die Selektion an der Rampe überlebten, von einem kennt Zeev Raphael nun das genaue Sterbedatum. Die anderen seien vermutlich bei Ankunft als „arbeitsunfähig“eingestuft und noch am gleichen Tag getötet worden. Zeev Raphael ist nicht der Einzige unter den 17 Interviewten, die erst jetzt, durch die Recherchen von Schneider und Wohlfeld, erfahren, was mit ihren Angehörigen im Dritten Reich passierte. Oft schickten die Eltern ihre Kinder damals allein auf die Flucht. Das Versprechen, bald nachzukommen, konnten viele nicht halten. Erst jetzt geben die Nachforschungen Udo Wohlfeld (l.) mit Shlomo Givon. Er starb knapp ein Jahr nach dem Interview. Hier suchen beide nach Fotos. Foto: Marion Schneider
Oft schickten Eltern ihre Kinder allein auf die Flucht
Deutschland beim Versuch, nach Palästina zu kommen. Bevor sie abreisten, hätten sie 1947 symbolisch in Bergen-Belsen geheiratet, so Udo Wohlfeld. Aus dem dortigen KZ war Perez Tsur befreit worden. Perez starb kurz nach dem Interview.
Ihren Israel-Aufenthalt haben Schneider und Wohlfeld privat bezahlt. Alle Interviews vor Ort fanden nach gleichem Muster und Fragenkatalog statt. Dabei knüpfen die Interviewer an heutige Fluchterfahrungen an. Gemeinsam ging man mit den Zeitzeugen Fotoalben und andere Überlieferungen durch. Die fertigen Bücher verschicken die Autoren derzeit an Archive, Bibliotheken, jüdische Verbände und Gedenkstätten. Im Herbst wollen sie sie in Israel feierlich präsentieren. Gut möglich, dass sich dann wieder neue Gesprächspartner melden. „Wir sind offen dafür“, versichert Udo Wohlfeld.
bei zahlreichen Stadt- und Landesarchiven, Suchdiensten, Gedenkstätten und Geschichtsverbänden im In- und Ausland den Überlebenden erstmals konkreten Aufschluss über den Verbleib ihrer Lieben. Bei den angefragten Stellen stoße man mit dem Zeitzeugen-Projekt auf großes Entgegenkommen, sagt Udo Wohlfeld. Anfragen würden oft schon nach ein oder zwei Wochen beantwortet.
So schmal die 60-seitigen Hefte auch sind, umso berührender lesen sich die darin enthaltenen Geschichten. Im Falle von Erika Sharon, geborene Inow, aus Elberfeld führte die Suche nach den letzten Lebenszeichen der Angehörigen über das „Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 bis 1945“des Bundesarchives unter anderem ins Getto Litzmannstadt. Bei Ilana Tsur und ihrem Mann Perez ergab die Befragung, dass sie die einzigen Überlebenden ihrer Familien waren. Beide überlebten Getto und KZ. Kennen lernten sie sich nach der Befreiung in ▶ Kinder auf der Flucht. Reihe des Prager-Haus-Vereins, mehrere Bände, im Internet unter: pragerhausapolda.wordpress.com/ veroeffentlichungen-des-vereins