Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Auf Eis Wie ein Thüringer Unternehmer in Zeiten der Wirtschaftssanktionen auf dem russischen Markt unterwegs ist und warum er für ein politisches Umdenken plädiert
Schwarzhausen. Im Pausenraum seines Unternehmens sitzt Geschäftsführer Marco Schülken und spricht einen erklärungsbedürftigen Satz: Wir haben viele sehr gute Kontakte zu Kunden in Russland, aber die wirtschaftlichen Beziehungen sind eingefroren.
Sein Handy auf dem Tisch meldet sich. Es gibt viel abzusprechen und er sitzt auf gepackten Koffern. In zwei Tagen geht es nach St. Petersburg zu einem Kundengespräch, danach zur „Rosmould“, einer Industriefachmesse in Moskau.
In der Werkhalle über den Hof surren die Maschinen, es ist Freitagnachmittag, sie arbeiten hier in zwei Schichten. Fast lautlos frisst sich die Hochgeschwindigkeitsfräse durch den Graphitblock, über den Arbeitsplätzen zeigen Monitore die Zeichnungen an. 35 Mitarbeiter zählt das Unternehmen „Schülken Form“, die Produkte, die hier gefertigt werden, verlangen höchste Präzision: Formen für Kunststoffprodukte wie Blutlanzetten und anderes medizinisches Equipment bis hin zu Flaschenverschlüssen. Die Spritzgussformen aus Schwarzhausen bei Gotha sind nicht nur bei deutschen Kunststoffverarbeitern gefragt.
Auf Europaletten lagern festverzurrt und transportbereit zwei Apparaturen für einen Kunden in Polen. Sie liefern auch nach Rumänien, auch in die Schweiz.
Die letzte Bestellung aus Russland gab es im vergangenen Jahr. Dass es weitaus mehr sein könnten, weiß Marco Schülken noch aus seiner vorhergehenden Arbeit, ein Thüringer Betrieb mit vergleichbarem Profil. Ein Großteil der Geschäftsbeziehungen nach Russland, die er dort knüpfte, nahm er mit, als er 2014 den Betrieb in Schwarzhausen übernahm. Auch mit Blick auf das künftige RusslandGeschäft, sagt er. Doch das, wie gesagt, liegt auf Eis. Jedenfalls weitestgehend. Dabei fallen die Produkte seines Unternehmens gar nicht unter die Sanktionsbestimmungen. Er habe erst einmal einen Auftrag ablehnen müssen, weil der Nachweis einer möglichen militärischen Nutzung schwierig war. Andere Unternehmen, weiß er, sind da ganz anders betroffen. Schuld sind die indirekten Folgen, der abgewertete Rubel, die Talfahrt der russischen Wirtschaft. Viele Kunden von früher versuchen die alten Maschinen mit ständigen Reparaturen irgendwie am Leben zu halten, weil sie keine neuen bezahlen können. Mehrere Hunderttausend Euro Umsatz, schätzt er, gehen seinem Betrieb auf diese Weise jährlich verloren.
In Russland ist er trotzdem gut unterwegs, im Schnitt alle sechs Wochen. Auf Messen, wo sich der Betrieb regelmäßig vorstellt und zu Gesprächen mit Kunden. Es sind nicht unbedingt harte Verhandlungen, manchmal ist es einfach ein gemeinsames Essen, bei dem viel geredet wird. Er nennt es Kundenpflege. Viele Geschäftsbeziehungen von einst sind über Jahre gewachsen. Das hat mit Vertrauen zu tun, mit Verlässlichkeit, da sind auch Freundschaften gewachsen. Ein Vertrag, sagt er, wird nie nach dem ersten Treffen unterschrieben. Geschäftsbeziehungen sind auch Menschenbeziehungen. So etwas gibt man nicht auf, so etwas pflegt man. Auch im Vorgriff auf Künftiges, das wohl vor allem. Russland, bemerkt der 43Jährige jetzt wieder sehr pragmatisch, ist ein Riesenmarkt direkt vor der Haustür.
Der Ruf nach einem Ende der Wirtschaftssanktionen, sagt er sei laut. Daraus spricht nicht nur die eigene Erfahrung. Marco Schülken ist Vorsitzender der Fachgruppe Werkzeugbau im Vdma-fachverband Präzisionswerkzeuge. VDMA steht für Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, die Folgen der Sanktionen treffen die Branche besonders hart. Ein politisches Armdrücken auf dem Rücken von Unternehmen, so nennt Marco Schülken die Wirtschaftssanktionen. Und wirkungslos dazu.
Chinesische Unternehmen seien in die Lücken gesprungen, die das Embargo reißt und die
LEG-CHEF Andreas Krey
russische Wirtschaft selbst sei gezwungen, auf sich selbst zu schauen und tut es zunehmend. Er weiß das aus vielen Gesprächen, er ist gut vernetzt im Land. Vor allem in der Landwirtschaft sei das schon jetzt spürbar. Viele weggebrochene Wirtschaftskontakte seien wohl unwiderruflich verloren.
Gut 2000 Kilometer von Schwarzhausen entfernt, mitten in Moskau, befindet sich das Büro von Guzel Schaykhullina. Die Handelsexpertin berät im Auftrag der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) Thüringer Firmen, die sich ostwärts orientieren wollen. Sie hilft bei Marktanalysen, in der Sprache, stellt Kontakte her. Den Service bietet die LEG seit 2007. Aber
die Nachfrage nach solchen Neuanbahnungen, so LEG-GEschäftsführer Andreas Krey, hat seit den Handelssanktionen spürbar nachgelassen.
Wen wundert das. Da will zum Beispiel ein Unternehmen ein Analysegerät an eine Universität in Russland liefern. Die wiederum hat einen Forschungsauftrag mit einem großen Lkw-hersteller, der seinerseits 48 Prozent seines Umsatzes im militärischen Bereich generiert. Ist die Universität nun der verlängerte Arm des russischen Militär-industriekomplexes? Im Zweifelsfall entscheidet dann das Ausfuhramt dagegen.
Das Beispiel ist nicht aus der Luft gegriffen. Den Nachweis, dass ein Geschäft nicht gegen die Sanktionen verstößt, muss das Unternehmen liefern. Ein langwieriges Verfahren, vor dem so manches mittelständische Unternehmen, das sich keine große Vertriebsabteilung leisten kann, zurückschreckt, weiß Andreas Krey.
Diese Hürden, und natürlich auch der Einbruch der russischen Wirtschaft nach 2014 haben in das Russland-geschäft der Thüringer Wirtschaft große Lücken geschlagen. 2014 unterhielten noch 360 Firmen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, 2018 waren es nur noch 222. Besonders der Maschinenbau ist betroffen, auch Unternehmen die elektrische Ausrüstung und optische Geräte herstellen, die Pharmazie, die Datenverarbeitung gehören zu den Verlierern.
Während 2012 der RusslandAnteil der Thüringer Exporte noch 3,3 Prozent betrug, sind es jetzt noch 1,9. Zahlen, hinter denen sich für manchen Betrieb, der einst aus langen Traditionen heraus 50 oder 60 Prozent seiner Exporte nach Russland lieferte, schmerzhafte Einschnitte verbergen. Vor Kurzarbeit bis zu Entlassungen.
Der Aufwind im Russland-geschäft, den es seit Kurzem wieder gibt, ist nur ein leichter. Es könnte viel mehr sein, sagt Andreas Krey. Vor allem: Wirtschaftsbeziehungen, die einmal weggebrochen sind, bleiben es meist auch. Weil andere die Leerstellen füllen, weil sich die russische Wirtschaft umstrukturiert. Die Formel ist einfach: Je länger der Bruch dauert, desto kleiner die Chance, ihn zu kitten. Zu der von Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer angestoßenen Debatte über ein Ende der Russland-sanktionen positioniert sich LEG-CHEF Krey klar: Ich begrüße sie ausdrücklich.
Und die Ukraine? Putins Annexion der Krim?
Nach fast fünf Jahren Wirtschaftssanktionen müsse es auch wieder Normalisierungsprozesse geben, entgegnet Andreas Krey. Da sei die Politik gefragt und die Diplomatie. Es geht ihm nicht nur um Wirtschaft, es geht um Beziehungen zwischen Menschen. Es spricht von einer Signalwirkung, um die Wolke, die über den Beziehungen hängt, zu lüften.
Beziehungen, die über Jahre gewachsen sind
Die Fäden dürfen nicht abreißen
So lange die Situation ist, wie sie ist, versuche man zumindest unterhalb der großen Politik im Gespräch zu bleiben, vor allem mit Tatarstan. LEG-CHEF Krey verweist auf die jüngste Reise von Wirtschaftsminister Tiefensee in die autonome Republik und kommende Woche wird Präsident Rustam Minnikhanov in Thüringen erwartet. Die Fäden dürfen nicht abreißen.
So sieht es auch Marco Schülken, den man einen RusslandOptimisten nennen könnte. Nicht nur, weil er beharrlich die alten Kontakte am Leben hält. Er zückt sein Handy, auf dem das Livebild einer Werkhalle zu sehen ist. Sie befindet sich in einem Industriegebiet der tatarischen Hauptstadt Kasan, wo er sich auf 400 Quadratmetern eingemietet hat. Mit einem Rundumsorglospaket vom Wachschutz bis zur Müllabfuhr, wie er bemerkt. Seit 2017 arbeitet dort eine Tochtergesellschaft seines Unternehmens: Schülken Form RUS. OOO. Ein Vorhaben, bei dem er im Übrigen auch die Kompetenz von Guzel Schaykhullina im Moskauer LEG-BÜRO schätzen lernte.
Die Niederlassung bietet Wartung und Service an, die Kunden kommen aus ganz Russland von St. Petersburg bis Nishni Nowgorod. Inzwischen fragen nicht nur Unternehmen an, die mit der Ausrüstung aus Thüringen arbeiten. Auch Investoren aus anderen europäischen Ländern mit Standorten in Russland schätzen die Verlässlichkeit der Arbeit. Vor allem die Einhaltung der Lieferfristen, das sei, bemerkt Marco Schülken, ein verbreitetes Problem im Land.
Eigentlich könnte Geschäftsführer Schülken dank der Technik die Arbeit seiner zwei Mitarbeiter in Kasan stets gut im Auge behalten, aber das ist nicht nötig. Es läuft auch so, die russischen Kollegen, sagt er, sind toll. Für das Training hat er sie nach Schwarzhausen geholt, auch sonst ist der Draht nach Kasan kurz. Es vergeht keine Woche, in der nicht die Kollegen in Kasan mit den Kollegen in Schwarzhausen ein Problem besprechen. Die Verständigung läuft in Englisch. Das Miteinander funktioniere gut, auch weil man sich persönlich gut kennt. Weihnachten zum Beispiel waren die Kasaner Mitarbeiter mit ihren Ehefrauen in Thüringen.
Wie gesagt: Wirtschaftsbeziehungen sind immer auch Menschenbeziehungen. Und die dürfen nicht abreißen.