Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Johnsons Minister planen Chaos-brexit
In London herrscht Nervenkrieg. Treten die Briten nun aus – auch ohne Vertrag? Die wichtigsten Fragen und Antworten
Brüssel/london. Rund zehn Tage vor dem geplanten EUAustritt Großbritanniens ist das Brexit-chaos größer denn je. Erst vertagte das britische Parlament am Samstag die Abstimmung über den Brexit-vertrag, dann provozierte Boris Johnson die EU mit einem Pro-forma-antrag auf Verschiebung des Austrittstermins. Die Gefahr eines harten Brexits sei gestiegen, erklärte Johnsons Minister Michael Gove. Teile des Kabinetts wollten noch am Sonntag zu einer Krisensitzung zusammenkommen, um die „Operation Yellowhammer“für einen Chaos-austritt vorzubereiten. Wie geht es weiter?
Treten die Briten am
31. Oktober aus?
Noch ist alles möglich, auch eine ordentliche Scheidung Ende Oktober. Genauso denkbar ist, dass der Brexit verschoben wird. Vorher gäbe es noch einen Eu-sondergipfel. Auch ein Chaos-brexit ist wieder denkbar. Die wichtigen Entscheidungen fallen in der nächsten Woche.
Warum wurde die
Abstimmung vertagt? Einerseits aus Misstrauen von Abgeordneten gegenüber Johnson und den Hardlinern unter den Brexit-befürwortern. Einem Teil des Parlaments ging es wohl auch darum, den Prozess aufzuhalten. Andere Abgeordnete wollten Johnson einen Denkzettel verpassen: Zu den wichtigsten Initiatoren des Antrags gehörten Tory-abgeordnete, die sich mit Johnson überworfen hatten. Gemeinsam mit LabourPolitikern brachten sie den Vertagungsantrag ein – 322 Abgeordnete stimmten dafür, 306 dagegen. Die Antragsteller äußerten die Befürchtung, dass BrexitHardliner den Deal jetzt annehmen könnten, aber in den nächsten Tagen entsprechende Gesetze blockieren. Befürchtungen gibt es auch, dass Großbritannien nach der Übergangszeit in den No-deal-brexit rutscht – wenn bis dahin keine neuen Verträge vereinbart sind.
Wie hat Johnson reagiert?
Gewohnt widersprüchlich. Nach der Gesetzeslage war klar: Weil am Samstag kein beschlossener Vertrag vorlag, musste er Manfred Weber, Evp-fraktionschef
die EU um eine Verschiebung des Austrittstermins bitten. Nach der Parlamentsentscheidung erklärte der Premier, er halte am Austrittsdatum 31. Oktober fest. Am Samstagabend telefonierte er mit Eu-ratspräsident Donald Tusk und kündigte doch einen Antrag an. Der war aber eine Provokation, denn er bestand aus drei Schreiben: der Kopie des Gesetzestextes, der ihn zu dem Schritt zwingt, ohne Unterschrift. Dazu eine Erläuterung des britischen EU-BOTschafters, der erklärte, der Antrag sei bewusst nicht unterzeichnet worden. Und dann schrieb Johnson einen Brief an Tusk („Dear Donald“), in dem er klarstellte, dass er gegen die Verschiebung des Brexit-termins sei. Wird die EU verlängern?
Sehr wahrscheinlich ja. Auf dem Eu-gipfel hatte bei den Regierungschefs Einigkeit darüber geherrscht, dass man lieber verlängern werde, als einen harten Brexit zu riskieren. Nur Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ließ am Wochenende durch Vertraute Bedenken gegen eine Austrittsverschiebung anmelden. Ratspräsident Tusk kündigte an, er werde die Regierungschefs konsultieren. Aber: Das werde einige Tage dauern, wie Eu-chefunterhändler Michel Barnier am Sonntag klarstellte. Nach Informationen unserer Redaktion sollen erst weitere Abstimmungen im Unterhaus abgewartet werden. Würde der Vertrag schnell angenommen, müsste der Austrittstermin nicht verschoben werden. Kippt der Vertrag, gibt es möglicherweise Bewegung in Richtung Neuwahl oder Referendum. Dann wäre eine Verlängerung kein Problem. Ein Eu-diplomat sagte unserer Redaktion: „Wir bleiben flexibel. Wir stellen uns auf alle Optionen ein.“
Wie groß der Frust ist, zeigen Reaktionen aus dem Eu-parlament. Der Grünen-abgeordnete Reinhard Bütikofer nennt die Abstimmung in London „das brutalste Versagen einer ganzen politischen Klasse in einem EULand seit Jahrzehnten“. Für eine Scheidung am 31. Oktober muss das Eu-parlament spätestens am Donnerstag dem Vertrag zustimmen. Nächster Abstimmungstermin wäre danach erst Mitte November. In diesem Szenario müsste der Austritt auf den 1. Dezember verschoben werden.
Hat der Vertrag noch eine Chance?
Ja. Genau wird man es in den nächsten Tagen wissen. Johnsons konservative Fraktion hat die Abstimmung am Samstag abgesetzt, weil sie nur unverbindlich gewesen wäre. Stattdessen sollen jetzt die entsprechenden Gesetze im Eiltempo durchgepeitscht werden. Nach dpa-informationen könnte es schon heute zur Abstimmung über den Brexit kommen, dies gilt aber als unwahrscheinlich. Außenminister Dominic Raab sagte, die Regierung sehe mindestens 320 Abgeordnete auf ihrer Seite, 318 wären notwendig. Der Premier hatte vor den Abgeordneten emotional für den „großartigen Vertrag“geworben. Labour-chef Jeremy Corbyn lehnt das Abkommen ab und meint, der Vertrag sei noch schlechter als der ursprünglich von Theresa May ausgehandelte. Klar ist jetzt auch: Gegner des Austritts und Befürworter einer weiteren Verzögerung wittern Morgenluft. Johnson hat mit dem Vertrag die Unterstützung der nordirischen DUP, die die Regierung bisher mitgetragen hat, verloren: Sie fürchtet, Nordirland werde abgekoppelt. Was passiert, wenn der Vertrag scheitert?
Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die EU stimmt zügig einer Verschiebung des Austritts zu, der Termin würde wohl um drei Monate verlegt. Lehnen die EURegierungschefs ab, käme es zum Chaos-brexit. Der droht auch aus einer anderen Richtung: Johnsons Regierung hat die Option durchgespielt, dass der Verlängerungsantrag kurz vor dem 31. Oktober zurückgezogen wird. Johnsons Minister Michael Gove machte klar, dass mit der Option eines Chaos-brexits weiterhin gearbeitet wird. Der Austritt werde auf jeden Fall am 31. Oktober vollzogen.