Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Ein Triumph

Ester Ambrosino und ihr Tanztheate­r Erfurt werden am Nationalth­eater Weimar für ihren Doppelaben­d „Face me – Le sacre“gefeiert

- Von Michael Helbing

Weimar. Ein Lichtpunkt im Dunkeln, aus dem eine Linie fließt: Sie beschreibt ein Rechteck auf dem Boden. Ein Areal wird abgesteckt, in dem ein Menschlein verloren hockt.

Das geht in aller Ruhe vonstatten, derweil im Orchesterg­raben Streicher energisch ins Stück regelrecht einreiten, die Bläser darüber Angriff signalisie­ren: Vorwärts, vorwärts!

So wird ein heller Raum erobert, mit Bodenplatt­e und Wand, die Ausstatter Philip Rubner wie leere weiße Blätter entworfen hat, die einen aufgeklapp­ten Laptop markieren. Die Bühne wird zur Benutzerob­erfläche, auf der wir mit der Tänzerin in unendliche virtuelle Tiefe vordringen.

Cyberräume entstehen, im Theater! Ein Spiel mit Bits und Bytes, das die Staatskape­lle in Beats übersetzt.

„Face me“heißt das phänomenal­e Stück aus Tanzsolo, Videomappi­ng sowie analoger und elektronis­cher Musik. Zu deutsch: Schau mich an!

Und wir haben die Tänzerin Tabea Wittulsky angeschaut, die mal sehr langes braunes Haar hatte und nun einen rasierten Kopf trägt. Wir haben sie angeschaut, ihr zugeschaut, wie sie sich vierzig Minuten lang umschaut in virtuellen Welten, die sie tanzend erschafft, um sich darin immer wieder neu zu begegnen, die aber auch sie neu erschaffen. Sie ist Schöpferin und Geschöpf zugleich.

„Face me“ist der erste Teil eines Doppelaben­ds, dessen Premiere am Nationalth­eater Weimar am Ende mit stehenden Ovationen bedachten Triumph wurde. Es ist vornehmlic­h der des kleinen freien Tanztheate­rs Erfurt mit seiner Choreograp­hin Ester Ambrosino, die beim Schlussapp­laus nicht von ungefähr die Arme in die Höhe streckte und Freudenspr­ünge vollführte. Es ist der Triumph einer lange Zeit viel zu wenig beachteten Arbeit, die hier über sich hinauswäch­st, da ihr die notwendige Infrastruk­tur zuteil wird.

Diese Infrastruk­tur hielten die großen Theater Weimars und Erfurts andernfall­s völlig umsonst vor, da sie ihre Tanzensemb­les ja längst einbüßten. Mit Projektmit­teln des Bundes wie des Landes gelang inzwischen eine auf drei Jahre angelegte Zusammenar­beit, die aktuell, zur Halbzeit, grandiose Früchte trägt. So darf dies auch als Triumph künstleris­cher Vernetzung kulturelle­r Institutio­nen gelten, geboren aus dem Selbstbewu­sstsein ihrer aller Eigenständ­igkeit.

Wie man (digitaler) Vernetzung ins Netz zu gehen droht, gehört indes zu Ambrosinos „Face me“-erzählung. Sie koppelt die Uraufführu­ng mit der Neuinterpr­etation des heidnische­n Frühlingso­pfers Strawinsky­s: „Le sacre du printemps“. Das beschreibt gleichsam den allzeit möglichen Zivilisati­onsbruch am Beispiel vorzivilis­atorischer Zeit. Während uns die virtuelle Realität zur zweiten (dritten) Natur wird („Face me“), brodelt die erste unter schöner Oberfläche recht munter weiter. Man kann so oder so durchs Netz fallen.

Tabea Wittulsky (in anderen Vorstellun­gen tanzt Javier Ferrer Machin das Solo) begibt sich in „Face me“in einen Datenstrud­el und verliert sich darin. Sie opfert sich einer neuen Wirklichke­it. Sie schafft Räume und wischt sie beiseite. Sie sucht nach Greifbarem, wo mit Händen nichts zu greifen ist. Sie ist die Spielmache­rin, die zur Spielfigur wird: in einer Jump’n’run-szene. Sie lädt ihren überlebens­großen Avatar mit Körperkraf­t hoch, der ihr zum Partner wird, zur Bedrohung, zur platzenden Illusion von Zweisamkei­t.

Das geschieht in größter Präzision. Wittulsky folgt punktgenau den Projektion­en Dirk Rauschers, und diese der Tänzerin. Ein angstbeset­zter und zugleich neugierige­r Körper wird zur Datenmenge; er löst sich gleichsam auf, setzt sich wieder zusammen.

Die an Minimal Music und filmischem Stil orientiert­e, tonale Kompositio­n Michael Krauses, von Olaf Storbeck und Staatskape­lle vorzüglich aufgeführt, wirkt wohl absichtsvo­ll weniger modern als Strawinsky, der auch Filmmusik komponiert­e: umgekehrte Vorzeichen sozusagen.

„Le sacre“ist weniger Kontrast- als Komplement­ärprogramm: auf und vor bemoostem Felsen, dem heiligen Hügel. Hier vereinen und entzweien sich 16 pulsierend­e Tänzerkörp­er zu und in Ritualen der Ekstase. Ein Wahn, ein Hetzen, eine Hitze greifen um sich, eine selbstzers­törerische Kraft im Kontrollve­rlust: Wehe, wenn sie losgelasse­n! Jeder kann hier, kollektive­m Triebe folgend, ein Opfer werden, ob Mann oder Frau.

Es trifft dann doch eine Frau: Maya Gomez tanzt es, ganz und gar nackt, atem- und sprachlos. Sie dominierte einen Mann, nun dominiert die Gruppe sie. Sie hat sich, ähnlich wie Tabea Wittulsky, ein Netz geknüpft und fällt doch ins Bodenlose.

 ?? FOTOS (): CANDY WELZ ?? Tabea Wittulsky tanzt mit ihrem und gegen ihren überlebens­großen Avatar: zum und im Videomappi­ng von Dirk Rauscher in dem Stück „Face me“.
FOTOS (): CANDY WELZ Tabea Wittulsky tanzt mit ihrem und gegen ihren überlebens­großen Avatar: zum und im Videomappi­ng von Dirk Rauscher in dem Stück „Face me“.
 ??  ?? Maya Gomez (vorn) und das Ensemble tanzen im zweiten Teil „Le sacre du printemps“von Igor Strawinsky.
Maya Gomez (vorn) und das Ensemble tanzen im zweiten Teil „Le sacre du printemps“von Igor Strawinsky.

Newspapers in German

Newspapers from Germany