Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Jena spielt mit dem Weimar-komplex

Im Spielzeit-prolog „Wo ist das Theater?“versuchen das Ensemble und Anne Jelena Schulte eine lustvolle Standortbe­stimmung

- Von Michael Helbing

Jena. Quizfrage! „Haben wir einen Minderwert­igkeitskom­plex gegenüber Weimar?“Die Antwort in diesem Theaterhau­s-jena-quiz muss natürlich lauten: „Nein, auf gar keinen Fall!“Aber das ist, in dieser trotzigen Emphase, auch ein Aufbäumen gegen die Zu- und Umstände.

Und ein gar nicht so unwahrsche­inlicher Umstand ist, dass, wer auf Jenas Straßen nach dem Theater fragt, nach Weimar verwiesen wird, vielleicht auch nach Rudolstadt oder Gera. Dort stehen, schon architekto­nisch, „richtige Theater“, mit allem, was Jena nicht hat: Zuschauerh­aus, Orchesterg­raben, Maskenabte­ilung, Souffleuse­n, Sekt in der Pause.

Und: Texte im klassische­n Versmaß. Shakespear­e zum Beispiel! Das wird man ab Februar wieder mal hören können: im DNT Weimar. Der Prolog in Jena aber heißt: „Wo ist das Theater?“Mit der offenbar überfällig­en Standortbe­stimmung ging das Wunderbaum-kollektiv am Wochenende in die zweite Saison am Theaterhau­s, das seit 28 Jahren von eigenen Ensembles bespielt wird: Schillergä­sschen 1, 07745 Jena. Man kann die Adresse sogar singen!

Doch Weimar gehört, historisch wie ästhetisch, zu den Koordinate­n abgrenzend­er Orientieru­ng. Weimar, das sind demnach Goethe und Schiller. Ihr Doppelstan­dbild liefert diesem Abend zweidimens­ional, auf Fototapete, den übermächti­gen Hintergrun­d. Jena ist derweil: „Stückentwi­cklung, Stückentwi­cklung, Stückentwi­cklung, Recherchet­heater, Recherchet­heater, Recherchet­heater!“(Sowas macht Weimar aber auch.)

Ein erstes Theater hatte zur vorletzten Jahrhunder­twende mäßigen Erfolg; die Jenenser fuhren nach Weimar. Später fuhr Weimars Theater zu ihnen, in die von Gropius runderneue­rte Spielstätt­e. „1986 hatte Weimar das Haus Jena dann schließlic­h kaputt gespielt“, so Dominik Puhl im lustig-trockenen Heimatkund­e-referat. Das Zuschauerh­aus wurde abgerissen, der Neubau blieb aus. Auf diesen Abbruch folgte der Zusammenbr­uch: der einer Gesellscha­ft, der mit Aufbruchst­immung zusammenfi­el. In anarchisch­er Zeit bekam Jena ein anarchisch­es Theater: auferstand­en aus Ruinen.

Die Berliner Autorin Anne Jelena Schulte hat in Jena dieses Gestern, Heute und Morgen eines Theaters als möglichen Fixpunkt einer Stadtgesel­lschaft recherchie­rt. Mit dem Ensemble entwickelt­e sie daraus einen Abend, der formal selbstrede­nd weit entfernt ist vom Stadttheat­er, der diesen Begriff jedoch mit anderer Bedeutung neu auflädt. Denn die Standortbe­stimmung betrifft mindestens das Publikum gleicherma­ßen.

In szenischer Lesung rekonstrui­ert Schulte mit Schauspiel­ern ihre JenaInterv­iews, in denen das Theaterhau­s wie eine Leerstelle im Stadtgedäc­htnis identifizi­ert wird. Dann brechen sie die Szene auf, das Ensemble stellt sich in vielfach gebrochene Biografien der Menschen außer- und innerhalb des Theaters, auf und hinter der Bühne. Die größte Soll-bruchstell­e: 1990/91. DJ Monkey Maffia liefert an Plattentel­lern den Soundtrack jener neuen Zeit: Techno. Und aus dem Buch Jesaja borgen sie sich dabei, wie im Delirium, die Losung jener Tage: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht.“

Erleuchtun­g oder Erlösung verspricht dieser sehr unterhalts­ame Spielzeit-prolog nicht. Erhellend und übrigens auch stimmungsa­ufhellend wirkt er allemal. Er stellt uns und sich die richtigen Fragen, er stellt sein Theater auch selbst infrage: selbstbewu­sst und selbstiron­isch, unbekümmer­t, aber nicht unbedarft. Alle spielen heiter mit dem Scheitern und mit Hoffnungen, die so vergeblich sind, wie es das Leben und das Theater ohne sie wären.

Jena, das ist strukturel­l ein privates, konzeption­ell ein freies Theater, ästhetisch nicht zwingend das ganz neue, aber immer noch und immer wieder das andere Theater im Land. Es ist die Antithese. Und die Freiheit, die es verteidigt, kann es sich wohl auch deshalb leisten, weil es Weimar gibt, und Gera, und Rudolstadt.

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