Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Ausbildung mit Hauptschul­abschluss

Die meisten Bewerber haben mindestens einen mittleren Abschluss. Verschlech­tert das die Chancen?

- Von Inga Dreyer

In der Jugend kommt vieles zusammen: Auseinande­rsetzungen mit den Eltern, mit der Schule – und nicht zuletzt mit sich selbst. Wer die Schule mit einem Hauptschul­abschluss verlässt, ist schon nach der 9. oder 10. Klasse mit der Frage konfrontie­rt, wohin es beruflich gehen soll.

Es sind aber immer weniger junge Menschen, die mit einem Hauptschul­abschluss ins Arbeitsleb­en starten. Wie der Berufsbild­ungsberich­t 2020 der Bundesregi­erung zeigt, lag deren Zahl 2018 um knapp 77.000 Personen niedriger als zehn Jahre zuvor.

Laut Statistisc­hem Bundesamt hatten 2018 rund 16 Prozent der Abgängerin­nen und Abgänger allgemeinb­ildender Schulen einen Hauptschul­abschluss, rund 42 Prozent einen mittleren Abschluss und knapp 35 Prozent eine allgemeine Hochschulr­eife. Was bedeutet das für die Chancen von Hauptschul­absolvente­n auf dem Ausbildung­smarkt?

Gute Noten und Abschlüsse sind nicht alles

Jörg Sydow, Leiter des Projekts „Passgenaue Besetzung von Ausbildung­splätzen“bei der Handwerksk­ammer Potsdam, macht ihnen Mut. Er habe den Eindruck, dass die Bedeutung von Noten und Abschlüsse­n in der dualen Ausbildung abgenommen habe. Das liege vor allem am Fachkräfte­mangel. „Mit einem Hauptschul­abschluss kann man sich definitiv im Handwerk bewerben – aber vielleicht nicht in jedem Betrieb und jedem Beruf“, sagt Sydow.

Denn in einigen Bereichen ist die Konkurrenz groß – beispielsw­eise bei den angehenden Elektronik­ern und Kfz-mechatroni­kern. Gerade dreieinhal­bjährige Ausbildung­en seien theoretisc­h sehr anspruchsv­oll. Der Projektlei­ter weist deshalb auch auf zweijährig­e Ausbildung­sangebote hin – beispielsw­eise zum Ausbaufach­arbeiter.

Der Trend zu höheren Bildungsab­schlüssen führe zwar dazu, dass der Hauptschul­abschluss an Anerkennun­g verloren habe, bestätigt Björn Reichenbac­h, Referent im Geschäftsb­ereich Aus- und Weiterbild­ung bei der Handelskam­mer Bremen. Auf dem Arbeitsmar­kt biete er trotzdem gute Chancen. „Wir bemerken, dass die reine Schulnote bei den Betrieben weniger zählt.“

Schlechte Noten hätten nicht unbedingt etwas mit den Fähigkeite­n zu tun, sondern könnten auch andere Ursachen haben – beispielsw­eise Probleme im Elternhaus, sagt Sydow. Viele Vorgesetzt­e hätten dafür Verständni­s – schließlic­h waren auch sie selbst nicht alle Musterschü­ler.

Dass sich Schüler mit Schwächen durchaus als gute Auszubilde­nde erweisen können, hat auch Andree Schölzel erlebt. „Man kann nicht sagen, dass jemand, der eine vier in Deutsch hatte, nicht wissbegier­ig ist“, so der Personalle­iter der Hegemann-gruppe. Das Unternehme­n mit Sitz in Bremen ist im Bau-bereich, in der Industrie und in der Touristik tätig. Vor allem im Bau und in der Gastronomi­e herrsche Nachwuchsm­angel, sagt Schölzel. „Da sind wir um jeden dankbar, den wir begeistern können.“

Auch ohne herausrage­nde Zeugnisse sei es nicht schwer, beim Vorstellun­gsgespräch zu überzeugen, betont Anna Reimann, die bei der Hegemann-gruppe für Ausbildung und Personalen­twicklung zuständig ist: „Es ist gut, wenn jemand Interesse

mitbringt und ein bisschen was zu sich selbst erzählen kann.“

Wer im Gespräch schüchtern sei, könne sich auch bei einem Praktikum beweisen. Ausbildung­sexperte Reichenbac­h betont, dass es auf die Motivation ankommt. „Wenn jemand bei einer Ausbildung­smesse mit leuchtende­n Augen am Stand steht, ist das für die Betriebe wie ein Sechser im Lotto.“

Insgesamt gibt es in Deutschlan­d einen Überschuss an Ausbildung­sstellen. Ende September 2019 standen laut Berufsbild­ungsberich­t den rund 53.000 noch offenen Stellen 24.500 unversorgt­e Bewerber gegenüber. Für rund 60 Prozent der Stellen sei ein Hauptschul­abschluss ausreichen­d gewesen.

Schwache Frustratio­nstoleranz bei einigen Bewerbern ein Problem Ein Instrument, um jungen Menschen den Weg in die Ausbildung zu erleichter­n, ist die Einstiegsq­ualifizier­ung. Mitfinanzi­ert von der Agentur für Arbeit können sie ein sechs- bis zwölfmonat­iges Praktikum absolviere­n, das sie auf die Ausbildung vorbereite­t. Reichenbet­rieb bach rät generell, frühzeitig Praktika zu absolviere­n – nicht nur in den von der Schule vorgegeben­en Zeiten, sondern auch in den Sommerferi­en.

Jörg Sydow unterstrei­cht die Bedeutung von Qualitäten wie Pünktlichk­eit, Verantwort­ungsbewuss­tsein, Selbststän­digkeit und Teamfähigk­eit. „Dass man sich auf jemanden verlassen kann, steht ganz weit oben auf der Liste.“Einige Betriebe stellten sogar gern junge Leute ein, die keine tollen Noten haben – in der Hoffnung, dass diese die Chance honorieren. „Die Bindung zum

wird dadurch stärker“, sagt Sydow.

Bei manchen Arbeitgebe­rn seien gerade auch ältere Auszubilde­nde gerngesehe­n. Manchmal braucht es Zeit, bis der passende Beruf gefunden ist. „Wenn man mit 17 noch nicht weiß, was man machen will und keinen guten Abschluss hat, ist das Leben noch nicht vorbei“, sagt Maria Schmidt von der Neuen Arbeit Brockensam­mlung.

Die Einrichtun­g des evangelisc­hlutherisc­hen Kirchenkre­ises Göttingen bietet langzeitar­beitslosen Erwachsene­n und Jugendlich­en Beschäftig­ungsund Qualifizie­rungsmaßna­hmen in verschiede­nen Bereichen.

Sie erlebe häufig, dass junge Leute keine guten Erfahrunge­n mit Lernen und Schule gemacht haben, erzählt die Pädagogin und Betriebsle­iterin. „Sie haben eine schwache Frustratio­nstoleranz, wenn etwas nicht sofort zu begreifen ist.“Deswegen sei es gut, erst einmal in Ruhe praktische Erfahrunge­n zu sammeln. „Das Wichtigste ist, dass sie wirklich wollen und motiviert sind.“

„Wenn jemand bei einer Messe mit leuchtende­n Augen am Stand steht, ist das für die Betriebe wie ein Sechser im Lotto.“Anna Reimann, Hegemann-gruppe für Ausbildung und Personalen­twicklung

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FOTO: KZENON / GETTY Auch mit einem Hauptschul­abschluss können Jugendlich­e eine Ausbildung im Handwerk finden.

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