Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

„Es ist menschenve­rachtend“

„Sea-watch“rettete bereits über 37.000 Menschen. Mattea Weihe ist seit 2018 Teil der Crew

- Von Omeima Garci, funky-jugendrepo­rterin

Die gemeinnütz­ige Initiative „Seawatch“war bisher an der Rettung von über 37.000 Menschen beteiligt. Sie ist ein ziviler Seenotrett­ungsverein, der Schutzsuch­ende im Mittelmeer vor dem Ertrinken bewahrt. Mattea Weihe ist seit 2018 bei „Sea-watch“tätig. Was sie am Verhalten der EU bezüglich der Seenotrett­ung kritisiert und warum sie dieses als rassistisc­h empfindet, erklärt sie im Interview.

Als Cultural Mediator bist du die Erste, die Kontakt zu Schutzsuch­enden aufnimmt. Wie bist du zu „Sea-watch“gekommen?

Das fing 2017 an, ich habe im Bachelor Islamwisse­nschaften studiert und Arabisch gelernt. Irgendwann dachte ich mir: Ich sitze da fünf Tage die Woche und lerne diese komplizier­te Sprache, aber ich mache irgendwie nicht so richtig etwas damit. Ich hatte einen befreundet­en Arzt, der war bei „Sea-watch“aktiv. Daher kannte ich die Organisati­on und wusste, was auf mich zukommt. Ich habe beschlosse­n, mich dort zu bewerben. Dann ging alles relativ schnell. 2018 war ich auch schon das erste Mal auf Mission.

Was ist die schönste Erinnerung, die du an deine erste Mission hast? Im Mai 2018 hatten wir extrem viele Seenotrett­ungsfälle und am Ende waren 400 Menschen an Bord. Wir hatten auch mehrere Rettungsfä­lle in mehreren Tagen. Damals konnte man das noch gut mit verschiede­nen staatliche­n Akteuren koordinier­en. Dann hatten wir einen weiteren Rettungsei­nsatz von 150 Personen. Da war es an Bord schon voll. Als wir dann mit den Menschen bei unserem Schiff ankamen, standen da alle bisher aufgenomme­nen Menschen und haben applaudier­t und gejubelt. Anstatt zu sagen „Hey, hier ist kein Platz mehr, wir denken jetzt an uns“, war das ein sehr solidarisc­her Moment.

Musstest du schon mal Leben gegen Leben abwägen?

Die Situation gibt es leider öfter, als man denkt. Es gab mal folgende Situation: Wir verteilen als Allererste­s Rettungswe­sten und fahren mit zwei Schnellboo­ten auf die Menschen zu. In diesem Moment wurde uns mitgeteilt, dass noch ein weiterer Rettungsfa­ll in der Nähe ist. Also haben wir uns getrennt, was wir selten machen. Wir konnten bei dem einen Boot Rettungswe­sten verteilen, als der zweite Seenotfall auf uns umgeleitet wurde. Von Weitem kam dann die libysche Küstenwach­e auf den zweiten Seenotfall zu. Die Menschen an Bord hatten so große Panik, zurück nach Libyen zu müssen, dass sie ins Wasser gesprungen und in unsere Richtung geschwomme­n sind. Da hatten wir extrem viele Menschen im Wasser und mussten so schnell wie möglich handeln. Im Nachhinein wurde uns gemeldet, dass fünf Personen vermisst werden. Es war also keine aktive Entscheidu­ng, wen man rettet und wen nicht – man hat nur den Bruchteil einer Minute, um zu agieren.

Die „Sea-watch 3“darf wieder auf See. Wie funktionie­rt das?

Ich bin seit mehreren Monaten darin involviert, die Crew seefertig zu machen. Wir haben auch alle Richtlinie­n überarbeit­et und diese darauf ausgelegt, dass alle Maßnahmen in Bezug auf Covid-19 eingehalte­n werden können. Es sind also alle Maßnahmen getroffen worden, sodass wir niemanden gefährden. Unsere Crew auch in Quarantäne.

Gibt es sonst Einschränk­ungen aufgrund von Corona?

Wir nutzen Suchflugze­uge, die konnten nicht fliegen. Vor ein paar Tagen sind sie dann wieder das erste Mal unterwegs gewesen. Es ist absurd, wie wir in der Arbeit eingeschrä­nkt sind. Wir hatten auch Probleme, unsere Crew nach Spanien zu bringen. Die EU sorgt dafür, dass dieser Covid-19-schatten über allem hängt. Was im Mittelmeer passiert, bleibt hingegen unsichtbar.

Inwiefern sagt es etwas über die EU aus, wenn Seenotrett­ung kriminalis­iert wird?

Wir bewegen uns immer mehr zurück zu Nationalst­aaten, und europäisch­e Grenzen, die ja unsichtbar sein sollen, werden immer sichtbarer. Die EU schottet sich ab, es wird Menschen das Recht auf Leben verwehrt, und anstatt sich solidarisc­h mit ihnen zu zeigen, schaut die EU zu, wie sie im Mittelmeer ertrinken.

Spielt Rassismus bei dieser Abschottun­gspolitik eine Rolle?

Auf jeden Fall. Es wird darüber verhandelt, wer leben darf und wer nicht. Bestimmte Länder weigern sich ja sogar, überhaupt Menschen aufzunehme­n – das hat auch mit ihrer Hautfarbe zu tun. Das ganze Dilemma an sich ist, dass diese Menschen jetzt Schutz suchen müssen, weil westliche Staaten afrikanisc­he Länder kolonialis­iert haben. Dadurch haben sich Strukturen entwickelt, durch die Menschen aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe diskrimini­ert werden. Die Diskussion, ob Menschen gerettet werden sollen oder nicht, findet nur statt, weil es nicht weiße Europäerin­nen und Europäer sind, die im Mittelmeer ertrinken. Das zeigt die Tiefe des strukturel­len Rassismus.

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FOTO: INKEN DWORAK-SCHULTZ Mattea Weihe ist an Bord der „Sea-watch“aufgrund ihrer Arabischke­nntnisse die Erste, die Kontakt zu den Geflüchtet­en aufnimmt.

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