Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Die dünne Haut
Die Jenaer Psychologin Karina Weichold erklärt, warum die Corona-beschränkungen Jugendliche besonders treffen
Keine Partys, keine Treffen im größeren Freundeskreis, keine Reisen: Zum zweiten Mal wird drastisch eingeschränkt, was Jugend ausmacht.
Eine verschmerzbare Unbequemlichkeit oder womöglich ein Einschnitt mit langfristigen Folgen? Wir fragten die Professorin Karina Weichold, die am Institut für Psychologie der Friedrich-schiller-universität Jena die Abteilung Jugendforschung leitet.
Wir erleben den zweiten Lockdown, müssen wir uns langsam Sorgen machen, weil eine „Generation Corona“heranwächst?
Jugendliche sind tatsächlich von den Beschränkungen der Pandemie stärker betroffen, als jede andere Generation. Sie befinden sich in einer Übergangszeit vom Kind zum Erwachsenen, die ohnehin mit vielen Herausforderungen einhergeht: Man muss sich an die körperlichen Veränderungen gewöhnen, es ist die Zeit der Abnabelung von den Eltern, man möchte Erfahrungen sammeln, ist risikobereit. Freunde haben einen sehr großen Einfluss, ihre Wertschätzung ist eine wichtige Quelle für das Selbstbewusstsein, man braucht den häufigen Kontakt. Vieles ist im Lockdown nicht, oder nur anders, zum Beispiel über soziale Medien, möglich.
Wir tun den Heranwachsenden unrecht, wenn wir unterschätzen, wie wichtig Ihnen das verbotene Zusammensein im Lockdown ist?
So ist es. Die Jugendlichen müssen sich in verschiedenen Rollen ausprobieren, ihre Identität bildet sich heraus, sie brauchen Wertschätzung, sind geradezu süchtig nach einem positiven Feedback von Gleichaltrigen.
Niemand kann sagen, wie lange die Situation anhält. Lassen sich die Lücken, die Lockdowns schlagen, problemlos nachholen?
Ich würde sagen ja, Entwicklung weist eine hohe Plastizität auf. Wir haben gesehen, wie schnell Jugendliche
nach dem Lockdown im Frühjahr zum beinahe normalen Leben zurückgekehrt sind.
Trotzdem: Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann spricht von „Bruchstellen in der Persönlichkeitsentwicklung“, die durch die Pandemie entstehen können. Teilen Sie seine Besorgnis?
Was in der Gesellschaft passiert, beeinflusst natürlich die persönliche Entwicklung, insofern gebe ich ihm
Recht. Das kann sehr belastend sein und auch zu Isolation und Einsamkeit führen.
Andererseits sind die Belastungen im Zuge des Lockdowns nicht mit individuellen Einschnitten, wie zum Beispiel einer schweren Krankheit oder dem Verlust von nahen Familienangehörigen zu vergleichen, denn sie müssen von allen getragen werden. Dieses mit allen geteilte Schicksal kann die negativen Folgen abmildern.
Auch Erwachsene leiden unter dem Lockdown, Senioren fürchten sich vor Einsamkeit. Warum sagen Sie, dass die Folgen ausgerechnet die Heranwachsenden am härtesten treffen?
Weil die vielen Herausforderungen zu größeren Anpassungsproblemen führen. Wir wissen, dass verschiedene Störungsbilder wie Depressionen im Jugendalter anwachsen, deswegen befasst sich die Wissenschaft auch so intensiv mit dieser Entwicklungsphase. In dieser Zeit werden die Weichen für das gesamte Leben gestellt, für die Entwicklung von Störungen, oder eben auch für eine positive Anpassungsfähigkeit.
Warum ist das so?
Heranwachsende sind anfälliger für starke Emotionen wie Wut, Trauer oder Stress, weil sie weniger Kompetenzen haben, sie aus eigener Kraft zu regulieren. Das Gehirn kann die notwendige kognitive Kontrolle noch nicht gewährleisten, denn das Vorderhirn, das dafür zuständig ist, wird in dieser Zeit stark umstrukturiert. Deswegen dürfen Eltern ihre heranwachsenden Kinder gerade in dieser Zeit nicht sich selbst überlassen sondern müssen sie unterstützen. Es fällt ihnen zum Beispiel schwer, Routinen einzuhalten und den Tag zu strukturieren, wenn sie viel zu Hause sind.
Gibt es ein Alter, in dem Heranwachsende besonders anfällig für Störungen sind?
Ich würde kein Alter besonders hervorheben, der Mensch ist über die gesamte zweite Dekade seines Lebens diesen strukturellen Veränderungen im Gehirn unterworfen. Hinzu kommt eine besondere emotionale Empfindlichkeit auf dem Höhepunkt der körperlichen Veränderungen in der Pubertät.
Also eine besonders dünnhäutige Lebensphase, in einer Situation, die ohnehin dünnhäutig macht. Ist die Corona-krise ein einziges Minenfeld, oder können Sie ihr auch eine Chance abgewinnen?
Auf jeden Fall. Die digitalen Kompetenzen, nicht nur im Bereich sozialer Medien, haben zugenommen. Obwohl Jugend gern mit Regelverstößen assoziiert wird, haben Heranwachsende jetzt gezeigt, dass sie sich sehr wohl an Regeln halten können. Und möglicherweise wächst eine Kohorte junger Menschen heran, für die Familie eine besonders wichtige positive Ressource ist.
Woran machen Sie das fest?
Das lässt sich zum Beispiel aus den Ergebnissen der aktuellen pairfamstudie herauslesen, die Jugendliche nach ihrem Befinden vor und nach dem Lockdown im Frühjahr befragte. 36 Prozent gaben an, nach dem Lockdown einsamer zu sein, allerdings fühlten sich 29 Prozent der Befragten weniger einsam. 45 Prozent waren weniger aktiv, aber 17 Prozent waren aktiver; 29 Prozent der Jugendlichen fühlten sich mehr gestresst, während fast 40 Prozent angaben, sich weniger angespannt und überlastet zu fühlen. Die Effekte fielen also sehr unterschiedlich aus, es gibt demnach auch Jugendliche, die vom Lockdown in ihrem Wohlbefinden sogar profitiert haben.
Sind Faktoren bekannt, die das beeinflussen?
Die Familie spielt eine große Rolle. Erwartbar war, dass sich im Lockdown familiäre Konflikte häufen, das gaben in der Studie auch 47 Prozent der Jugendlichen an. Aber fast jeder Dritte fand, dass sich die Familienbeziehungen verbessert haben. Wenn Eltern mit ihren heranwachsenden Kindern auch über ihre Gefühle sprechen, wenn sie zusammenrücken, sich stärker als sonst um schulische Belange kümmern und Zeit mit gemeinsamen Aktivitäten verbringen, können Jugendliche sogar aus der Situation eines Lockdowns profitieren. Natürlich spielen auch andere Faktoren wie persönliche Kompetenzen oder die Hilfe der Schule eine Rolle. Doch familiäre Beziehungen entscheiden sehr stark darüber, ob die Coronakrise Chance oder Risiko für eine positive Entwicklung der jetzt Heranwachsenden ist.