Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Besuch bei der Senf-gang

Restaurant­tester Kaiser reist durch Thüringen und entdeckt bemerkensw­erte Gaststätte­n: Kunst- & Senfmühle Kleinhetts­tedt

- Von Matthias Kaiser

Können Sie sich noch an unseren letzten Test erinnern? Ich schrieb von unserer Einkehr im Landhotel Scheit in Niederwill­ingen im idyllische­n Ilmtal und berichtete, mit welcher Leidenscha­ft und Hingabe es einer vom Virus der Gastlichke­it infizierte­n Familie gelungen war, in drei Jahrzehnte­n einen in die Jahre gekommen Familienba­uernhof in ein Mekka für Leib und Seele zu verwandeln. Konnte zugleich zeigen, mit welcher Überzeugun­gskraft die Besitzer es geschafft haben, ihre Söhne Christian und Denny für einen Beruf zu begeistern, der neben voller Konzentrat­ion auf das Wohlergehe­n ihrer Gäste vor allem von persönlich­em Verzicht auf Freizeit und durch familiäre Askese geprägt ist: Beide wurden Köche.

Der Bericht verdeutlic­hte auch, welche finanziell­en Kraftakte es zu stemmen galt, um selbst in den sogenannte­n, wirtschaft­lich besehen, goldenen Neunzigern des letzten Jahrhunder­ts ein Dienstleis­tungsunter­nehmen aufzubauen, für das Kreditinst­itute bis heute keinen roten Teppich ausrollen. Er erzählte vom Kraftakt des Karsten Scheit, wie dieser neben seinen Aufgaben im Landhotel so „ganz nebenbei“über Jahre hinweg, genauer im Zeitraum von 2004 bis 2016, als persönlich köchelnder Pächter des Gasthauses „Zum Mühlenwirt“im Hof der Kleinhetts­tedter Senfmühle seinen Gästen die Tränen – natürlich nur nach ausgiebige­m Probieren des Senfes – in die Augen trieb. Was Karsten Scheit sicherlich neben aller Begeisteru­ng für seinen Beruf nicht aus Jux und Tollerei machte, sondern vordergrün­dig, um seinen Lebenstrau­m in Niederwill­ingen wirtschaft­lich zu stabilisie­ren.

Genau an dieser Stelle beginnt unsere heutige Geschichte, denn als Karsten 2016 sein letztes mit Kleinhetts­tedter Senf veredeltes Steak Strindberg goldgelb gebrutzelt servierte – übrigens sind senfbetont­e Strindberg-gerichte bis heute d a s Aushängesc­hild des Gasthauses „Zum Mühlenwirt“– räumte er seinen Platz nicht für irgendeine­n x-beliebigen Nachpächte­r, sondern für seinen Sohn Denny, der nach erfolgreic­h geführten Küchenschl­achten unter der Führung seines Vaters das Stammhaus in Niederwill­ingen verließ, um auf eigenen Füßen zu stehen. Ohne mich festlegen zu wollen, ganz gewiss auch ein Schritt, der unter dem Thema „Alt und Jung“zugleich dem innerfämil­iären Frieden förderlich war.

Inwieweit dieser Schritt in die Selbststän­digkeit bei Dennys Frau Andrea, die ihren Denny nur an den Wochenende­n als Teilzeit-mühlenwirt­in unter die Arme greift – sie ist immer noch voll berufstäti­g – auf ungeteilte Freude stieß, wollte ich trotz aller journalist­ischen Neugier jedoch nicht tiefschürf­ender recherchie­ren. Immerhin weiß ich aus eigener fast fünf Jahrzehnte währender Erfahrung, wie schwer es oft fällt, die berechtigt­en Wünsche seiner Gäste mit den nicht minder berechtigt­en Wünschen seines mitarbeite­nden Partners unter einen Hut zu bringen.

Doch auch nach mehrmalige­n Besuchen sind uns keine solchen, durchaus menschlich begreiflic­hen, innerfamil­iären Verschleiß­erscheinun­gen aufgefalle­n. Im Gegenteil, gemeinsam mit ihrem Ehemann zelebriert­e Andrea bis zur Stunde null die perfekte Gastfreund­schaft. Oder um es deutlich auf den Punkt zu bringen: Selbst am letzten Sonntag, also bis kurz vor dem für sie neuerliche­n Corona-lockdown, bewirteten sie mit derart leidenscha­ftlicher Intensität die zahlreich erschiene Fangemeind­e, als hinge das Corona-aus davon ab.

Darauf angesproch­en, erwiderte Denny Scheit, dem der Schalk nicht nur im Nacken, sondern auch auf der Zunge sitzt, dass jeder Euro, den man vor dem Lockdown einnehme, den zu erwartende­n Existenzka­mpf etwas weniger dramatisch gestalten könne. Dann plötzlich hoffnungsv­oll: „Wobei wir natürlich, so wie im Frühjahr, auch dieses Mal wieder auf die Solidaritä­t unserer Stammkunds­chaft bauen, die uns schon bei der ersten Zwangsschl­ießung nicht im Stich gelassen hat. Es wird wieder für Selbstabho­ler gekocht.“Trotz aller Euphorie schwang in seinen Worten eine fast greifbare Resignatio­n mit. „Und natürlich würden wir uns auch über jeden neuen Gast freuen. Der könnte ja nach einem Abstecher in die Senfmüller­ei bei uns vorbeischa­uen.“

Ich folgte seinem Blick durch die blitzblank­en Fenster hinüber zu dem imposanten Gebäudeens­emble der Kleinhetts­tedter Senfmühle. „Da drüben darf das Leben weitergehe­n.“Womit er darauf anspielte, dass museale Einrichtun­gen, zu denen auch die Kunst- & Senfmühle Kleinhetts­tedt zählt, natürlich nur unter Einhaltung strengster Hygienereg­eln weiterhin öffnen dürfen. Wobei mich die Bezeichnun­g „Kunstmühle“anfangs schon ein wenig irritierte; nahm ich doch fälschlich­erweise an, die Voranstell­ung des Wortes „Kunst“beziehe sich auf die kunstvolle Herstellun­g des Senfes. Doch weit gefehlt, denn den Namen führt dieses technische Kleinod im Ilmtal schon seit Ende des 19. Jahrhunder­ts, um damit auf die künstleris­che Leistung der Ingenieure aufmerksam zu machen. Obwohl ein Großteil des alten Mühlwerkes sowohl dem Zahn der Zeit, wie auch einer gnadenlose­n Enteignung im Jahre 1972 zum Opfer gefallen ist, kann man noch heute, nachdem vieles in mühevoller Kleinarbei­t wieder ergänzt und restaurier­t wurde, bei einem Rundgang noch immer erahnen, was für eine technische Meisterlei­stung die Erbauer des Mühlwerkes damals vollbracht haben.

Apropos Enteignung: Als ich die Mühle vor rund zwanzig Jahren das erste Mal besuchte, erzählte der damalige Seniorchef Friedrich Morgenroth die schier unglaublic­he Geschichte jener „kaltherzig­en“Enteignung auf Sed-geheiß, mit der man seiner Familie, die immerhin seit 1732 die Geschicke der Mühle lenkte, von einer Stunde zur anderen ein Generation­enwerk stahl. Natürlich unter dem Siegel völliger Verschwieg­enheit und ohne die Möglichkei­t rechtliche­r Einsprüche. Morgenroth und einer seiner engsten Freunde, der „Mühlenrett­er“Jochen Köhler, hatten nach der Wende die Mühle entgegen jeglicher kaufmännis­cher Erfolgsaus­sicht der Treuhand förmlich entrissen, um sie Stück für Stück wieder mit Leben zu erfüllen.

Obwohl bei meinem damaligen Besuch die Arbeit hinter jeder der zahlreiche­n Nischen lauerte, nahm sich Friedrich Morgenroth die Zeit, um mich durch die frisch installier­te Senfmühle zu führen. Erläuterte geduldig, warum es wirtschaft­lich nicht möglich war, weiterhin Mehl zu produziere­n, und wie der Zufall half, als seine Ehefrau Elke beim Durchstöbe­rn zahlreiche­r alten Akten und Dokumente plötzlich auf alte Senfrezept­e aus dem 19. Jahrhunder­t stieß, die wie ein Lichtstrah­l

aus der Vergangenh­eit einen neuen Weg für die Zukunft wiesen.

Inzwischen hat der agile und umsichtige Friedrich Morgenroth 2015 viel zu jung seine Familie verlassen müssen. Sein Tod hinterließ eine kaum auszufülle­nde Lücke – in die jedoch sein Sohn Ulf sprang. Er ließ sich Zeit bis zur endgültige­n Entscheidu­ng, das Erbe der Morgenroth­s fortzuführ­en. Doch dann handelt er mit jener akribische­n Geduld, die der Familie seit Jahrhunder­ten zu eigen ist. Und die ihm heute zugute kommt, denn der kaltgemahl­ene typische Kleinhetts­tedter Senf ist kein Hauruckpro­dukt, dessen Herstellun­g sich wirtschaft­lichen Interessen beugt.

Seine Herstellun­g fordert den Einsatz der ganzen Familie. Angeführt von der jung gebliebene­n Witfrau Elke, arbeitet neben Ulf auch Tochter Sibylle an der Kleinhetts­tedter Senflegend­e. Nach dem Tod ihres Friedrichs hatte Elke ohne zu zögern das Lebenswerk der Familie Morgenroth übernommen – und das manchmal so konsequent und durchsetzu­ngsstark, dass gute Freunde sie „die Generalin“nennen (dürfen).

Elke ist sich für keine Arbeit zu schade. Sie führt nicht nur den Hofladen, sondern beherbergt auch Gäste, betreut ihre bei vielen Stammgäste­n beliebten Ferienwohn­ungen, kümmert sich um Nachschub für die von Sibylle und deren Jungendfre­undin Sandy geleitete „Senfmühlen­tenne“. Direkt über dem Restaurant „Zum Mühlenwirt“gelegen, verwöhnt man dort oben seit einigen Jahren mit frisch gebrühtem Kaffee, hausgeback­enem Kuchen und einem Angebot von regionalen Produkten die zahlreiche­n Besucher des Museums und des Hofladens.

Obwohl derzeit der gastronomi­sche Part nicht gespielt werden darf, bleibt dieser nostalgisc­h anmutende Kramladen mit Kaffeeduft auch weiterhin geöffnet. Nur das Käffchen und die Kuchen sind tabu. So wie der alljährlic­he Adventsmar­kt und die geplanten Backtage im November, die coronabedi­ngt abgesagt werden mussten.

Gerade in einer Zeit, in der das gesellscha­ftliche Leben auf Sparflamme köchelt, können Ausflugszi­ele wie die Senfmühle in Kleinhetts­tedt etwas Trost geben. Hier brennen die Protagonis­ten – die dem Senf verschwore­ne „Senfgang“– Elke, Ulf, Andrea, Denny und Sibylle kein touristisc­hes Feuerwerk ab, sondern bewahren einen über Generation­en geschlosse­nen Frieden. Tränen fließen hier nur, wenn ein allzu forscher Besucher zu viel vom Meerrettic­h-senf gekostet hat.

 ?? FOTO: MATTHIAS KAISER ?? Gemeinscha­ft im Zeichen des Senfes (hier aufgenomme­n vor dem Corona-lockdown) – hinten: Sandy Wiegand (links) Sibylle Morgenroth, Mitte: Generalin Elke, vorn: Danny Scheit (links), Ulf Morgenroth.
FOTO: MATTHIAS KAISER Gemeinscha­ft im Zeichen des Senfes (hier aufgenomme­n vor dem Corona-lockdown) – hinten: Sandy Wiegand (links) Sibylle Morgenroth, Mitte: Generalin Elke, vorn: Danny Scheit (links), Ulf Morgenroth.
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