Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
„Erst Impfung, dann Party“
Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann kann sich Silvesterfeiern in diesem Jahr genauso wenig vorstellen wie Weihnachtsmärkte
Winfried Kretschmann dämpft die Hoffnung auf eine schnelle Lockerung der Coronamaßnahmen. Im Interview sagt der Ministerpräsident von Baden-württemberg, was er sich von einem Impfstoff verspricht.
Geht der November-lockdown nahtlos in einen Dezember-lockdown über? Oder können sich die Menschen darauf freuen, dass Corona-auflagen zurückgenommen werden?
Winfried Kretschmann: Wir müssen warten. Ob die harten Maßnahmen wirken, die wir beschlossen haben, kann man noch nicht sehen. Wie es weitergeht, haben die Bürger selbst in der Hand. Sie müssen ihre Kontakte reduzieren, dann kann die Welle gebrochen werden. Es hängt von jedem Einzelnen ab, ob wir im Dezember lockern können oder verschärfen müssen.
„Unsere Verantwortung ist groß. Es geht um Menschenleben.“
Von welchen Zahlen machen Sie diese Entscheidung abhängig?
Der robusteste Wert sind die Neuinfektionen, die letztlich wieder stabil unter 50 pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen fallen müssen. Alles andere sind abgeleitete Zahlen. Der begrenzende Faktor sind letztlich die Kliniken: Haben wir genügend Intensivbetten und genügend qualifiziertes Personal? Wenn die Intensivstationen volllaufen, ist es schon zu spät. Wir dürfen nicht warten, bis die Kapazitäten erschöpft sind. Wenn droht, dass diese rote Linie überschritten wird, kommen wir um härtere Maßnahmen – unter Umständen sehr harte Maßnahmen – überhaupt nicht herum.
Werden dann die Schulen wieder geschlossen? Oder Ausgangssperren verhängt?
Wir müssen die Kontakte dann weiter minimieren. Die Anzahl der Personen, mit denen man sich treffen kann, muss dann noch weiter reduziert werden. Das ist ein milderes Mittel als die Schließung von Schulen. Grundsätzlich gilt in diesen Monaten: Unsere Verantwortung ist groß. Es geht um Menschenleben. Jeder hat die Verpflichtung, sich an die Regeln zu halten – jetzt und auch dann, wenn wir die Maßnahmen wieder lockern können. Wir können nicht dulden, dass diese Sache nicht ernst genommen wird. Das heißt, wir werden schärfer kontrollieren – und es wird auch härtere Sanktionen geben. Damit muss jeder rechnen.
Sie waren einmal Lehrer am Gymnasium. Wie kommen die Schulen durch den Corona-winter?
Am wichtigsten ist, dass wir genügend Testkapazitäten haben und schnell reagieren können, wenn Infektionen an Schulen sind. Wir erwarten vom Bund, dass er das gewährleistet.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Testmöglichkeiten werden eingeschränkt.
Wir liegen in der Tat schon über den Kapazitäten, die wir haben. Die Tests stauen sich in den Laboren. Aber wir bekommen ja den Schnelltest, den wir vor allem in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern oder auch in Schulen zum Einsatz bringen können.
Sind die Schnelltests auch eine Lösung für die Weihnachtszeit? Man macht einen Test – und feiert dann mit der Familie?
Das ist überhaupt nicht zu machen. Wir haben zum ersten Mal über 20.000 Neuinfektionen am Tag. Woher sollen die ganzen Tests kommen? Wir müssen uns darauf konzentrieren, wo die Schnelltests absolut notwendig sind. Das Gebot der Stunde ist, sich um die vulnerablen Gruppen zu kümmern. Sonst laufen uns die Kliniken über und es gibt mehr Tote. Das muss bei Tests und Schutzmaßnahmen im Vordergrund stehen – und nicht der Familienbesuch an Weihnachten.
Sehen Sie eine Chance für Weihnachtsmärkte?
Gar nicht. Das würde ja an ein Wunder grenzen, wenn wir mit den Infektionszahlen so dramatisch runterkämen. Weihnachtsmärkte halte ich in diesem Winter leider für vollkommen ausgeschlossen. Von diesem Gedanken sollte man sich mal verabschieden.
Gilt das auch für Silvesterpartys?
Ich fürchte, ja. Silvesterpartys kann man im Kreise der Familie machen, aber nicht groß, feucht und fröhlich mit vielen Freunden. Erinnern wir uns an den Anfang der Pandemie: Das Coronavirus ist durch Karneval und Skifahrerpartys eingetragen worden. Mit so etwas warten wir bitte, bis wir einen Impfstoff haben und die Bevölkerung auch durchgeimpft ist.
Also wie lange?
Optimistische Prognosen gehen davon aus, dass der Impfstoff im ersten Quartal des nächsten Jahres kommt. Aber das ist nicht belastbar. Die klinischen Tests werden gerade gemacht, dabei kann es auch Rückschläge
geben. Und selbst wenn es schnell geht mit dem Impfstoff, wird es lange dauern – viele Monate noch –, bis die Pandemie weggeimpft ist. Aber wir werden psychologisch eine andere Situation haben, wenn die Impfungen beginnen: Wir schauen wieder froh in die Zukunft, das Ende der Pandemie beginnt.
Werden die meisten Deutschen geimpft sein, bevor der nächste Winter kommt?
Nach dem, was wir abschätzen können, werden die Impfungen im Herbst 2021 weit fortgeschritten sein – vorausgesetzt, der Impfstoff kommt tatsächlich im ersten Quartal und ist genügend verfügbar.